Er zog eine Augenbraue hoch und sah noch einmal auf Micah hinunter.
Sie zog ihren Handschuh aus, um ihre Daten aufzuschreiben, und merkte erst da, dass sie ja gar nichts zum Schreiben dabeihatte. „Haben Sie vielleicht einen Stift?“
„Ich kann die Nummer auch gleich in mein Handy eingeben“, sagte er und zeigte ihr sein Handy. „Ich heiße übrigens Beau. Beau Callahan.“
„Kate“, stellte sie sich vor, und wenn sie die Hand, die er ihr gab, ein bisschen zu lange festhielt, dann nur, weil sie so schön warm war. „Und das hier ist Jack“, fügte sie noch hinzu.
„Hallo, Jack“, begrüßte er auch den Jungen.
Und dann nahm Beau sein Handy und sah sie erwartungsvoll an.
Ach du liebe Zeit. Was hatte sie sich denn nur gedacht? Sie hatte doch gar keine Handynummer. Ja, sie hatte nicht einmal eine Adresse. Sie merkte, wie sie rot wurde, und wand sich unter seinem direkten Blick. „Ach – wissen Sie was? Am besten rufen Sie in dem Café an, wenn wieder irgendetwas frei wird. Im Frumpy Joe ’ s.“ Sie würde dort einfach jeden Tag nachfragen. Vielleicht sogar stündlich. „Hinterlassen Sie die Nachricht dann doch bitte bei Charlotte, ja?“
„Klar, das kann ich machen. Sind Sie mit den Duprees verwandt?“
„Äh …. nein“, antwortete sie rasch.
Er steckte sein Handy wieder in die Tasche, holte seine Autoschlüssel heraus und fragte: „Soll ich Sie wieder mit zurück in die Stadt nehmen? Ich fahre jetzt nämlich dorthin.“
Er war ja anscheinend ganz nett, aber das war Antonio auch gewesen. Und Langley ebenfalls. Sie vertraute seitdem niemandem mehr, und schon gar nicht ihrem eigenen Urteil.
Sie griff nach Micahs Hand, ging zur Verandatreppe und antwortete: „Nein, vielen Dank. Wir kommen schon zurecht.“
Die Stelle zwischen seinen Augenbrauen kräuselte sich, und er sagte in besorgtem Ton: „Aber es wird bald dunkel, und es gefällt mir gar nicht, dass Sie ganz umsonst hergekommen sind.“
„Machen Sie sich darüber bloß keine Gedanken“, entgegnete sie, aber fünf Minuten später fragte sie sich, ob diese Entscheidung richtig gewesen war, denn sie zitterte so heftig, dass ihre Zähne klapperten. Micah hatte angefangen zu quengeln, und sie hatten noch nicht einmal die lange Auffahrt zurück zur Hauptstraße hinter sich. Wie sollten sie es da den ganzen Weg zurück in die Stadt zu ihrem Auto schaffen?
„Ach, mein Kleiner. Mir ist auch so kalt“, sagte sie.
Und hungrig war sie ebenfalls, aber das erwähnte sie lieber nicht, weil er seinen eigenen Hunger vielleicht noch gar nicht bemerkt hatte. Beau hatte recht. Die Sonne war hinter den Hügeln verschwunden, und es wurde dunkel. Der Weg zurück in die Stadt war weit, das Café schloss um sechs, und sie bezweifelte, dass es in der Kleinstadt etwas gab, das länger geöffnet hatte. Sie hatte eine kleine Kirche gesehen, aber die war sicher verschlossen, und eine Obdachlosenunterkunft gab es wahrscheinlich auch nicht. Dafür war die Stadt einfach zu klein.
Herr … Gott. Jetzt wünschte sich Eden Martelli schon eine Obdachlosenunterkunft. Wie hatte es nur so weit kommen können?
Wieder wimmerte Micah, und sie beugte sich nach unten, um ihn auf den Arm zu nehmen.
„Na, brauchst du eine Pause, Jack?“
Er legte sein Gesicht an ihren Hals, und sie spürte den Gegensatz zwischen seinen kalten Wangen und dem warmen Atem. Als sie endlich wieder die Hügelkuppe erreicht hatten, taten ihr die Arme und der Rücken weh, ihre Lunge brannte, sie spürte ihre Zehen nicht mehr und blieb keuchend und völlig außer Atem stehen. Sie beugte sich noch einmal nach vorn, um Micah wieder abzusetzen, aber er klammerte sich wimmernd an ihrem Hals fest. Der arme Kleine.
Du kannst dich nicht einmal richtig um deinen Sohn kümmern. Was bist du bloß für eine Mutter?
Doch sie verscheuchte diese Stimme in ihrem Inneren, ging neben Micah in die Hocke und schloss ihn in die Arme. Solange sie nachdachte, konnte sie ihn ebenso gut auch wärmen.
Sie schaute sich in der immer dunkler werdenden Gegend um, so als könnte wie durch Zauberhand plötzlich eine Blockhütte auftauchen. Es war unmöglich, es zu Fuß bis ganz zurück in die Stadt zu schaffen, und Micah musste unbedingt aus der Kälte raus. Auf dem Hinweg waren sie zwar an ein paar Häusern vorbeigekommen, aber sie würde sich hüten, irgendwelchen Fremden zu vertrauen.
Ein Stückchen weiter die Straße entlang fiel ihr dann plötzlich wieder der Schuppen ein, an dem sie vorbeigekommen waren. Er war sehr klein und wahrscheinlich auch verschlossen, aber wenn es sein musste, würde sie eben ein Fenster einschlagen. Sie würde es Beau Callahan irgendwann wieder ersetzen.

Beau beendete das Telefongespräch, während er rückwärts von der Auffahrt vor Paiges Haus auf die Straße fuhr. Ihr gemeinsamer Abend war durch den Anruf vorzeitig beendet worden, was allerdings nicht hieß, dass es zuvor besonders gut gelaufen wäre.
Paige war an diesem Abend nicht gut drauf gewesen wegen des Hundenotfalls, mit dem sie zu tun gehabt hatte, und dann hatte Beau auch noch den Fehler gemacht zu erwähnen, dass auf der Farm ihre Hilfe gebraucht würde. Sie hatte ihm daraufhin ganz klar gesagt, dass sie mit ihrer eigenen Arbeit genug zu tun habe und nicht einspringen könne. Noch schlimmer war es dann mit dem Anruf von Tante Trudy geworden, den er gerade bekommen hatte.
Er gab Gas, während er per Schnellwahl Zacs Nummer wählte.
Beim vierten Läuten ging sein Bruder an sein Handy.
„Ich habe schlechte Nachrichten“, sagte Beau. Im Hintergrund hörte er die Stimmen der Gäste des Roadhouse und einen laufenden Fernseher. „Hast du kurz Zeit?“
„Klar. Was ist denn los?“
„Tante Trudy hat gerade angerufen. Ihre Krankenversicherung zahlt den Aufenthalt in der Rehaklinik nicht.“
„Und was bedeutet das?“, erkundigte sich Zac.
„Das bedeutet, dass wir die Tausende von Dollars hinblättern müssten, die es kosten würde. Sie kommt morgen nach Hause.“
„Und was ist mit ihren Therapien?“
„Die finden jetzt zweimal wöchentlich ambulant statt. Die Kosten werden von der Versicherung übernommen, aber sie braucht jemanden, der sie versorgt und zu den Therapien begleitet.“
„Also da kann ich wirklich nicht helfen“, sagte Zac betrübt.
„Es müsste ja auch jemand sein, der die ganze Zeit bei ihr bleiben kann, Zac“, sagte Beau seufzend.
Das konnte doch alles nicht wahr sein. Ausgerechnet jetzt, wo jede Hand draußen für den Weihnachtsbaumverkauf gebraucht wurde. Der Zeitpunkt hätte nicht schlechter sein können.
„Riley könnte doch …“, wollte Zac vorschlagen, aber Beau unterbrach ihn und sagte:
„Den brauche ich draußen für den Transport der Bäume und den Verkauf. Er ist die einzige erfahrene Hilfe, die ich habe.“
„Und ich nehme an, dass Paige auch keine Zeit hat, oder?“, erkundigte sich Zac jetzt.
Darauf gab es nur ein dickes, fettes Nein. „Wir müssen jemanden einstellen, und Tante Trudy muss nach unten ziehen. Außerdem müssen wir dafür sorgen, dass sie das Bein nicht belastet und dass sie sich aus der Küche fernhält“, berichtete Beau weiter.
„Oh Gott, sie wird uns in den Wahnsinn treiben“, bemerkte sein Bruder nur.
„Ja, das glaube ich auch“, pflichtete er ihm bei.
„Hast du gesagt morgen?“, fragte Zac noch einmal nach.
„Ja, genau. Kennst du jemanden, der auf der Suche nach einem Betreuerjob ist?“, fragte er, und in dem Moment fiel Beau die Frau wieder ein, die am Spätnachmittag auf seiner Veranda aufgetaucht war und nach einem Job gefragt hatte. Wenn sie gute Referenzen hatte, konnte sie ja vielleicht …
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