Will man einen zentralen Argumentationstopos der Negativen Dialektik herausstellen, um die Idee der konstellativen Begriffsbildung zu verhandeln, so ist es der Doppelaspekt, den Adorno am Begriff festmacht: Einerseits die Begriffskritik als Destruktion der Falschheit der Begriffsfunktion, ihrer Logik der Identitätsstiftung, andererseits dasjenige, was durch diese Logik wegfällt, weggeschnitten wird: das ›Mehr‹ am Begriff, das nur in einer Transzendierung seiner selbst zu begründen ist. Man kann diesen Doppelaspekt des Begriffs auch als Paradoxon seiner Bestimmung auffassen, und dann ergibt sich, was der Titel dieser Abhandlung programmatisch verspricht: »die Anstrengung, über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen«44. Wie aber ist diese Transzendierung mit und durch den Begriff zu leisten, ohne in einer Aporie erkenntnistheoretischer Art stecken zu bleiben? Meines Erachtens nur, indem man dieses begriffliche Transzendieren sprachtheoretisch entfaltet; nicht aber, wie Adorno meinte, durch eine erkenntnistheoretische und seinstheoretische Kritik allein.45
4. Die Lesarten des Nichtidentischen
Das Nichtidentische, der durch keine positive Vermittlung zu identifizierende Rest des Seienden, ist in den Werkinterpretationen der Negativen Dialektik in verschiedener Weise interpretiert, gekennzeichnet bzw. in seiner begrifflichen Aporetik verhandelt worden. Meines Erachtens lassen sich vier Lesarten auseinanderhalten, die jeweils eine andere Interpretation des Begriffs des Nichtidentischen vorlegen.
Erstens gibt es Reinterpretationen, die mehr oder weniger begriffliche Analogisierungen vornehmen, indem das Nichtidentische anhand der vorgegebenen Terminologie Adornos begrifflich variiert wird. Danach ist das Nichtidentische das Begriffslose, das Partikulare, das Besondere, das Individuelle, das Qualitative am Objekt, das unmittelbar Gegebene, das Andere, das Unentstellte, das Gewordene usw. Alle diese Termini kreisen zwar um einen identischen Bedeutungsgehalt, bringen aber außer einem Bündel lexikalischer Differenzen keine befriedigende Erklärung. Im Grunde können keine divergenten Merkmale des Begriffs des Nichtidentischen ausgemacht werden, sondern nur synonyme Bedeutungsüberschneidungen. Die Konsequenz solcher Unmöglichkeit, das Nichtidentische zu erklären, führt dann dazu, es als methodologischen Grenzbegriff auszuweisen, wobei dieser nur zu einer besonderen Erkenntnishaltung gegenüber den Objekten des Denkens verpflichtet ist: »Nichtidentisches wird nicht als das der Sache Anderes wahrgenommen, sondern bezeichnet einen anderen Blick auf die Sache; den, der sich ins Detail versenkt, sich des Besonderen, Individuellen in ihr annimmt«46. Gleiches gilt, wenn man für die Erfahrung des Nichtidentischen eine besondere epistemologische Einstellung einfordert: diejenige, die »gegenüber dem Objekt eine größere Aufmerksamkeit intellektuell aufbringt«47. Alle diese Versuche sind Verlegenheitsversuche, die die begriffskritische Reflexion der Negativen Dialektik entschärfen.
Zweitens wird aus einer genetischen bzw. genealogischen Perspektive, letzteres unter Berufung auf die Leibphilosophie Nietzsches, die Adorno in die Negative Dialektik hat einfließen lassen,48 das Nichtidentische als sinnlich-somatisches Moment bezeichnet. Dieses Moment ist – so die Vorstellung – gleichsam unterschwellig, besser noch: subkutan im Begriff aufgespeichert. Unterhalb der abstraktiven Leistung des Begriffs ruhen Leib- bzw. Empfindungserfahrungen, die in die Begriffsbildung konstitutiv eingeflossen sind, aber im fixierenden, abstraktiven Begriff nicht mehr offen präsentierbar sind. Die genuine Unsinnlichkeit des Begriffs vermag die sinnlichen Qualitäten der Erfahrungsobjekte nicht direkt auszudrücken, allenfalls indirekt. Als Erfahrungsrudiment »schwingt […] die subjektive Empfindung im gewählten Begriff noch mit«, weil »der Gegenstand« dem »Subjekt eine affektive Reaktion aufzwingt«, wenn er »in der engsten Fühlung erlebt wird«49. Die These ist also, dass allein in der expressiven Schicht der Sprache die ursprünglich affektive Reaktion noch zu detektieren ist. Dies mag im Vermögen des sprachlichen Ausdrucks, seiner expressiven Natur, insbesondere dort, wo sie keine epistemologische Funktion, sondern nur poetische Darstellungswirkung haben soll, noch angehen – aber auch im philosophischen Begriff?
Zudem gibt es einen sprachtheoretischen Einwand. Zwar stehen erkennende Subjekte in einem sinnlichen Verhältnis zur Objektwelt; die Umformung zur Objekterkenntnis, zu deren begrifflicher Erschließung, ist jedoch nur im Medium der Sprache möglich. Die Restitution eines subjektiven Empfindungsvermögens in die Welterschließungsfunktion der Sprache bedeutet nichts anderes als ein Repräsentationsdenken, das die sinnliche Erfahrung durch die Begriffssprache – wenn auch hintergründig – abbildbar machen soll. Außerdem: Wenn Adorno das Nichtidentische auch als das Intentionslose bezeichnet hat, so beruht jede sprachliche Ausdrucksgestaltung von Empfindungen letztlich auf intentionalen Akten, die wiederum nur Bewusstseinsintentionen eines Subjekts sein können. Die argumentative Rückführung des Nichtidentischen auf sinnlich-somatische Erlebnisqualitäten kappt eine zentrale Pointe der negativ-dialektischen Kritik am Begriff: dass das Nichtidentische sich nur negativ bestimmen lässt und nicht in der Ausspielung des Sinnlichen gegen das Begriffliche. Der gewählte Umweg über die Reklamation eines subjektiven Empfindens, das vorrangig in die Begriffsbildung eingeht, unterschlägt dessen sprachtheoretische Klärung. Der Weg orientiert sich bei der Genese der Begriffsbildung immer noch kantianisch an der Synthese von Sinnlichkeit und Begrifflichkeit. Letztlich ist fragend anzumerken: Hat Adorno den Ausdruck ›Empfindung‹ nicht für alles unbegriffliche Denken, für falsch verstandene Konkretionen eines nur diffus erfahrbaren ›Unmittelbaren‹, reserviert?
Drittens existiert eine Lesart, die das Nichtidentische von den ethischen Implikationen her, die in der Negativen Dialektik argumentativ ausgestreut sind, bestimmt. Das Nichtidentische wird dadurch nicht mehr zum Verhandlungsterminus für eine negativ-dialektische Begriffskritik, sondern vielmehr dafür, was letztlich das Motiv adornoschen Denkens ist: rettende Kritik durch den Bruch mit der Identitätsdialektik. Erst nach dem Freiwerden vom tradierten Denken, das die Welt der Objekte begrifflich unter sich subsumiert, stellt sich ein, was die Programmatik negativdialektisch impliziert, wenn auch im kontrafaktischen Zustand. Diese Lesart schließt insofern an Adorno an, als dieser betont hat, negative Dialektik
»gäbe das Nichtidentische frei, entledigte es noch des vergeistigten Zwanges, eröffnete erst die Vielheit des Verschiedenen, über die Dialektik keine Macht mehr hätte. Versöhnung wäre das Eingedenken des nicht länger feindseligen Vielen, wie es subjektiver Vernunft anathema ist. Der Versöhnung dient Dialektik«.50
Das Nichtidentische wird so zum Leitbegriff eines Versöhnungsdenkens in geschichtsphilosophischer Reichweite. Die epistemologische Korrektur, die erkenntnisreflexive Maxime der Negativen Dialektik wird eingebettet in einen Wahrheitsanspruch, den Begriffe einlösen sollen: »Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit«51. Vom Standpunkt der philosophischen Referenz heißt dies:
»Die Adornosche negative Dialektik will nichts anderes. Materialistisch sucht sie, noch das Leiden in sich hineinzunehmen […], um einem veränderten Begriff von Erkenntnis den Weg zu bahnen. Genügen würde ihm erst eine solche, welche dem Leiden, das in ihren ›Begriffen sich sedimentierte‹, zum Eingedenken verhülfe«52.
Der Terminus ›materialistisch‹ gemahnt freilich an ein marxistisches Widerspiegelungstheorem in der Erkenntnisbegründung, dem Adorno vehement widersprochen hat: »Hinter jener These [des Materialismus] steht die Verachtung des Geistes zugunsten der Vormacht materieller Verhältnisse als des Einzigen, das da zähle«53. Zudem bleibt die aporetische Frage, die unterhalb einer ethischen Forderung an die Erkenntnis virulent ist, ungelöst: Wenn Leiden, zumal geschichtliches Leiden, in »Begriffen sich sedimentierte«, wie drückt sich diese Sedimentierung im Begriff aus? Und wie ist die Erfahrungsgeschichte in geschichtlichen Begriffen aufbewahrt, sodass sie als beredtes Leiden sich erneut artikulieren kann? Die Crux solcher Fragen liegt darin begründet, dass Begriffe, zumal die philosophischen Termini, aus diskursiven Praktiken stammen, diese aber nie selber direkte Übersetzungen erlebter Leidensprozesse sind. Zwar mögen sich diese diskursiven Praktiken, ihre semantischen Haushalte, durchaus aufgrund von realgeschichtlichen Ereignissen verändern bzw. umcodieren, jedoch sind sie keine kollektiven Gedächtnisbehälter, in denen geschichtliches Leiden eingelagert ist. Wäre dem so, hieße dies, dass geschichtliche Begriffe, zumal auf der Ebene philosophischer Terminologie, ihre semantischen Veränderungen direkt von diesen geschichtlichen Leidenserfahrungen erhalten, die sie widerspiegeln. Dies würde aber den diskursiven Veränderungspraktiken philosophischer Termini widersprechen, die gerade im Prozess intertextueller Auseinandersetzungen ihre originären Bedeutungsfestlegungen wie Wandlungen vollziehen. Der philosophische Begriff ›Freiheit‹ hat zum Beispiel seine eigene Geschichte von Bedeutungsverschiebungen, die aus den philosophischen Abarbeitungen seiner textuellen Auslegungspraktiken stammen, ist aber niemals ein direktes Sediment geschichtlicher Leidenserfahrungen. Zu meinen, dass in philosophischen Begriffen Leidenssedimente enthalten sind, macht diese Begriffe tendenziell zu Widerspiegelungsvokabularien von gesellschaftlichgeschichtlichen Leidensereignissen. Dies umgeht aber die begriffsgeschichtliche Deutungsmaxime, dass historische Begriffe nur der Niederschlag von vergangenen Artikulationspraktiken sind.54 Diese entwerfen niemals eine expressiv-sinnliche Textur geschichtlicher Leidenserfahrung selbst. Leidensgeschichten müssen ›erzählt‹ werden; dies ist ihre Beredsamkeit aus dem erlittenen Schmerz und Protest. Sie finden sich unter Umständen im historischen Quellenmaterial erzählend angezeigt, sedimentieren sich aber nicht im Schatten philosophischer Begriffe, die sich auf das Sinnganze der historischen Erfahrung auslegen.
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