Wer nur eine Sache kennt, kennt diese doch nicht recht.
Wäre Andrew Taylor Still bloß ein Arzt gewesen, versiert und sehr bewandert in allem, was die Bücher lehren, hätte er niemals die Wissenschaft der Osteopathie entwickelt.
Mühsal, Entbehrung, Hindernisse, Schwierigkeiten waren es, was ihn zurückzugehen zwang auf sein erfinderisches Genie.
Doktor David Starr Jordan sagte, dass der Wert einer Fachhochschule im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Ausstattung stehe. Das bedeutet im Grunde, dass dort, wo man viel für einen jungen Menschen macht, er niemals viel für sich selbst tun wird. Gegenstände selbst herzustellen, Erfindungsgeist, die Notwendigkeit, sich eigene Werkzeuge zu machen und das eigene Leben zu leben, sind wichtige Faktoren der Erziehung.
Ich kenne Doktor Still seit vielen Jahren. Ich habe seine Vorlesungen gehört. Ich habe ihn in der Klinik beobachtet. Ich habe mit ihm Gestrüpp auf einer Lichtung verbrannt, über viele Themen mit ihm diskutiert, bin mit ihm über die Felder, durch die Wälder und hinunter zum Bach gelaufen.
Doktor Still interessiert sich stets mehr für das Leben als für die Medizin. Er interessiert sich mehr für Gesundheit als für Krankheit. Er sucht nicht nach dem Anomalen. Er besitzt die Fähigkeit, sich das Ideal vollkommener Gesundheit im Geiste gegenwärtig zu halten, und stets arbeitet er im Hinblick auf dieses Ziel. Wenn er schreibt oder spricht, redet er über Gesundheit, und stets scheint es seine Absicht zu sein, einen Seitenkanal zu öffnen, die Felsen im Kanal wegzusprengen, einen Pfad durch die Wälder frei zu machen. Er strebt hin zu einem bestimmten Punkt, und dieser Punkt ist Glück und Gesundheit.
Alles Pathologische ist ihm mehr oder weniger zuwider, und im Gespräch redet er immer über die wundervollen Dinge der Natur – über das Vieh, Dampfmaschinen sowie Maschinen im Allgemeinen und über Bildung durch das Zusammenwirken von Kopf, Hand und Herz. Gesundheit ist sein Hobby. Die Medizin ist da nur ein Zufall.
Wir haben es hier mit einer herrlichen großen, weiten, großzügigen Weltsicht zu tun. Ich denke nicht, dass er das Ausmaß an Gegnerschaft je realisiert hat, welches die Entstehung der Osteopathie mit sich brachte. Dem stand er einfach gleichgültig gegenüber. Er war von Natur aus ein Kämpfer und kämpfte für die menschliche Freiheit, das Recht des Einzelnen, sein eigenes Leben zu leben, gemäß den Vorgaben des eigenen Gewissens.
Deshalb löste er sich von der Welt der Medizin und begründete seine eigene Wissenschaft.
Zugleich war Doktor Still jedoch niemals dogmatisch in seinem Versuch, die Osteopathie zu verbreiten. Er verstand, dass es sich um eine Wissenschaft handelte, die sich selbst entwickelte und dass alles mehr oder weniger floss. Das will er nicht verfestigen oder erstarren lassen. Er sagt einfach, was er für wahr hält, und berichtet davon, was er durch seine lange und vielfältige Erfahrung festgestellt hat.
Ursprünglich hatte er nicht die Absicht, eine Schule zu begründen. Er lebte ein Leben, seine Missachtung der Verfahren der alten Schulen bestand schlicht in der Ankündigung, dass er fortan seine Patienten gemäß seiner eigenen höchsten Erkenntnisse behandeln werde.
Und die Patienten kamen zu ihm in Wagen, auf Tragen, humpelnd auf Krücken und Stöcken, und Tausende von ihnen ließen ihre Krücken und Stöcke und Stützen aufgehäuft in seinem Vorgarten zurück. Wenn die Leute zahlen konnten – alles in Ordnung. Wenn sie nicht zahlen konnten – alles in Ordnung! Doktor Still war kein großer Geschäftsmann, wenn es ums Geld ging.
Etwa um das Jahr achtzehnhundertneunzig fasste Doktor Still die Idee, eine Medizinschule zu gründen, und zwar tat er das schlicht zur Selbstverteidigung.
Zu dieser Zeit lebte Doktor Still in Kirksville, Missouri. Er war Farmer und Arzt. Die Leute kamen zu Hunderten über viele Meilen Entfernung, um von ihm behandelt zu werden. Das war mehr als ein bloß örtlich begrenzter Wahn. Die, die geheilt wurden, gingen fort und verkündeten die frohe Botschaft. Und die Leute kamen in solchen Massen, dass sie den Ort geradezu in Besitz nahmen.
Doktor Still unterrichtete eine ganze Anzahl junger Männer darin, wie sie die Manipulationen auszuführen hatten, und im Wesentlichen setzten sich seine Idee und seine Methoden dadurch in deren Köpfen fest. Sie wurden sozusagen zu Experten in der Wissenschaft der rechten Anpassung.
Einige der jungen Männer und Frauen, die geheilt worden waren, waren begierig darauf, diese Kunst selbst zu lernen, hinauszugehen und sie auszuüben. Und so wurde eine kleine Hütte mit einem Raum beschafft, wo diesen Schülern tägliche Unterrichtsstunden erteilt wurden.
Doktor Charles E. Still, Sohn des Alten Doktors, hatte verschiedene Schulen und Krankenhäuser in New York, Chicago, Philadelphia und Boston besucht. Nun klemmte er sich gemeinsam mit seinem Vater richtig hinter die Sache und arbeitete sechzehn Stunden am Tag.
So wuchs das Geschäft. Bald schon war die kleine Hütte zu klein und ein Vortragssaal wurde errichtet. Weitere Gebäude entstanden zu gegebener Zeit.
Im Jahr 1900 ging ein Anteil an der Schule an Doktor George M. Laughlin über, der eine der Töchter des Alten Doktors Still geheiratet hatte. Dies war ein Glückstag für die Osteopathie, da Laughlin ein Mann von seltener Begabung ist.
Kürzlich unternahm ich eine kleine Reise nach Kirksville und verbrachte zwei glückliche Tage unter Studenten, Professoren und Patienten.
Die School of Osteopathy in Kirksville umfasst inzwischen ein Dutzend oder mehr Gebäude. Es gibt zwei prächtige Ziegelbauten mit Büros, einem Hörsaal und Vortragsräumen sowie etwa fünfzig Zimmern, in denen Behandlungen stattfinden.
Nie geht die Anzahl der Patienten zurück. Täglich finden Sprechstunden statt und der Professor stellt Diagnosen oder gibt der Klasse Vorlesungen und demonstriert die Behandlungen. Jede Art, jeder Stand der von Krankheiten geplagten Menschheit, wie man sie sich nur vorstellen kann, lassen sich antreffen – jung und alt, reich und arm, gelehrt und ungebildet, sie alle kommen zur Behandlung.
Kein Ort der Welt bietet solche Möglichkeiten für das Studium der Heilkunst wie Kirksville.
Verschiedene andere Colleges und Schulen ähnlicher Ausrichtung wurden in verschiedenen Teilen des Landes eröffnet, seit die School vor zwanzig Jahren gegründet wurde. Doch Kirksville ist die Heimat der Osteopathie. Es ist die Heimat von Doktor Andrew Taylor Still, von Doktor Charles E. Still, von Doktor George M. Laughlin und von Doktor George Still, einem sehr begabten Chirurgen und Neffen des Alten Doktors.
Diese vier Männer haben diese Einrichtung aufgebaut, darin geschickt unterstützt durch E. C. Brott als Geschäftsführer.
Emerson sagt, dass jede große Institution der verlängerte Schatten eines Mannes sei. Für die Osteopathieschule in Kirksville trifft das gewiss zu.
Mehr als siebenhundert Studenten besuchen die Schule. Etwa ein Drittel davon sind Frauen. Ich fand es interessant und erfreulich, dass Frauen zumeist zu den besten Studenten der Osteopathie zählen und, in der Regel, den Beruf sehr erfolgreich ausüben.
Frauen sind gute Ärzte. Das große, überströmende Mutterherz ist in der Lage, seine liebevolle Fürsorge auszuweiten und sich um die Nöte einer großen Zahl an Leuten zu sorgen.
Die Osteopathie erhebt nicht den Anspruch, alles darüber zu wissen. Keine Schule der Medizin ist so vollständig im Recht, dass sie es sich leisten könnte, zu behaupten, alle anderen lägen völlig falsch.
Es liegt Gutes auch in anderem, ansonsten könnte es gar nicht existieren. Indem sie dies anerkennt, strebt die Osteopathie danach, jede Idee, jede Gerätschaft, jede Erfindung, die den von Krankheiten betroffenen Menschen dienstbar sein könnten, zu nutzen.
In Kirksville gibt es ein vollständig ausgestattetes chemisches Laboratorium. Die Gerätschaften des Krankenhauses dort sind vermutlich ebenso gut wie auch sonst in Amerika, einschließlich des sachkundigen Personals, um sie zu betreiben, wenn Bedarf dazu besteht.
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