Und so wuchs der Knabe heran an Körper und Geist. Er beobachtete das Wunder der Jahreszeiten, den Zuckerahorn, das Hochwasser, wie es die Brücke mit sich riss, die ersten Frühlingsblumen, die auf der Sonnenseite faulender Baumstämme aus dem Schnee hervorlugten; er sah die Bäume ausschlagen, weiße Hügel gesprenkelt von Kirsch- und Weißdornblüten. Es gab Waschbärenjagden bei Mondlicht, Rehe hinterließen ihre Spuren bei ihren Lecksteinen. Es gab Bären im grünen Mais, die Erntezeit, Schweine-Schlachttage, Frost auf den Kürbissen und auf dem Futter in den Heuhaufen; es gab wilde Truthähne auf den Lichtungen, Erweckungstreffen, Buchstabierwettbewerbe, Diskussionen, Apfelwein, gelegentliche Ladenschlägereien; Scheunen wurden gebaut, Quiltkreise fanden statt, Rinder waren zu zähmen, junge Fohlen zu reiten; Apfelkraut, Schmierseife, eingelegte Schweinsfüße, Räucherschinken, Schweinebauch, geschälte Hickory- und Walnüsse, Waschbärenfelle an der Scheunentür, Winter und der erste Schnee; Spuren der wilden Tiere, die man jagen und verfolgen konnte; Schuhe, die einzufetten, Pferdegeschirre, die zu flicken waren; Vorräte und eben alles, was es im Leben der Pioniere so gab, die Tage vollgepackt, die Nächte dem Schlaf vorbehalten, wobei sich die erschöpfte Natur ausruhte ohne aufzuwachen und der Morgen dann allzu früh kam.
Andrews Wunsch war es, ein Wanderprediger zu werden wie sein Vater. Doch seine Erfahrungen mit dem guten presbyterianischen Pastor klärten ihn auf, da er so feststellen konnte, dass die Presbyterianer beinahe so gut waren wie die Methodisten. Und später stellte er fest, dass alle Konfessionen sich sehr ähnlich waren; das ist hauptsächlich eine Sache des Temperaments. Ein großer Teil der Arbeit der Wanderprediger bestand darin, den körperlichen Nöten der Leute beizustehen, nicht minder als ihren spirituellen und geistigen. Eigentlich war es noch gar nicht lange her, dass diese drei Lehrberufe noch in einer Person zusammengefallen waren.
So entschloss sich Andrew, etwa in seinem neunzehnten oder zwanzigsten Lebensjahr, Arzt zu werden. Und deshalb besuchte er eine medizinische Fachhochschule in Kansas City und fing zu gegebener Zeit an, zusammen mit seinem Vater und einem älteren Bruder, der ebenfalls Arzt war, zu praktizieren.
Er wurde ein Allgemeinmediziner. Um jede Art von Leiden, die des Fleisches Erbteil1 war, kümmerte er sich.
Rev. Abram Still war aufgrund seiner gewissenhaften Haltung in der Frage der Sklaverei in Schwierigkeiten mit seinen Nachbarn geraten. Die ersten Bewohner der Berge Virginias besaßen keine Schwarzen, vielmehr waren sie eigentlich die ersten Abolitionisten.
Thomas Jefferson hatte Sklaven, doch in seinem letzten Willen verfügte er, dass alle seine Sklaven mit seinem Tod freigelassen werden sollten. Und jeder, der über das Leben von Thomas Jefferson liest, wird Aussagen finden, die seine Unzufriedenheit mit dieser „Einrichtung“ zum Ausdruck bringen. Thomas Jefferson trug die feine Linie der Bergbewohner in der Anlage seiner eigenen Person. Doch bei ihm mischte sie sich mit dem Plantagenbesitzer, denn er erbte ein großes Anwesen, auf dem sich eine ganze Menge jener düsteren Habe befand.
Abram Still jedoch hatte nicht dieses Unglück. Andrew Taylor Still war ein Abolitionist aufgrund vorgeburtlicher Anlage. Er nahm es mit der Muttermilch in sich auf.
Missouri war das große Schlachtfeld für die abolitionistische Idee in den Fünfzigern, und die ganze Familie Still empfand es da als zweckdienlich, von Missouri nach Kansas zu ziehen, um ihre Haut zu retten.
Der junge Doktor Still praktizierte beinahe im ganzen Kansas-Territorium und geriet so, natürlich, in den Grenzkrieg hinein, der sich um das Jahr achtzehnhundertfünfundfünfzig zu einem Bürgerkrieg entwickelte.
Banden von Befürwortern und Gegnern der Sklaverei marschierten gegeneinander auf. Ob Kansas ein „Sklaven-Staat“ oder ein „freier Staat“ werden solle, das war die Frage.
Doktor Still stand ein für die Freiheit, nicht nur seine eigene, sondern auch für andere Leute, weiß wie schwarz.
Und als Old John Brown nach Kansas kam, etwa im Jahr achtzehnhundertsiebenundfünfzig, da war es beinahe die natürlichste Sache der Welt, dass er Doktor Still über den Weg lief.
Als sich das erste Parlament von Kansas versammelte, im Jahr achtzehnhundertsiebenundfünfzig, war Doktor Still eines der Mitglieder.
Die Frage der Sklaverei schien, wie alles andere auch, eine Frage des Standpunkts zu sein. Die, welche Sklaven besaßen, betrachteten die Abolitionisten als „Negerdiebe.“
Ihr Argument war es, dass, wenn die Abolitionisten keine Sklaven halten wollten, sie es nicht müssten. Sie sollten sich aber auch nicht bei denen einmischen, die welche hatten.
Es war eine wunderbare Erfahrung für Doktor Still, als Kämpfer, als praktizierender Arzt, als Wundarzt in der Armee. Er half, in den Bürgerkrieg einzutreten, noch fünf Jahre bevor auf Fort Sumter geschossen wurde.2 Um Freund und Feind kümmerte er sich gleichermaßen. Wenn zu kämpfen war, kämpfte er. Er kämpfte für das, was er für richtig und wahr und gerecht hielt; und wenn es Knochen einzurenken, hungrige Leute zu verpflegen und Kranke zu versorgen galt, so war er zur Stelle. Ob sie nun Grau oder Blau trugen3, machte keinen Unterschied. Für immer und ewig stand der Wundarzt Still auf der Seite der Menschlichkeit. Er war ein Mensch. Er stand direkt an der Schusslinie – und war seitdem stets dort.
Doch die eine Sache, mit der dieser Mann die Menschheit beeindrucken sollte, sollte erst später kommen. Die Wissenschaft der Osteopathie existierte damals nur als ein Keim in seinem Verstand. Er war von Natur aus ein zweifelnder Mensch, doch, seltsam genug, aber es entspricht dem Gesetz des Paradoxen, ein Zweifler ist ein Mann mit mehr als nur Glauben. Um voranzuschreiten, muss man glauben, dass etwas Besseres vor einem liegt, und natürlich zweifelt man dann an der Vollkommenheit der gegebenen Ordnung.
Doktor Still, glücklich verheiratet, war sesshaft geworden, um eine Farm zu betreiben und die Medizin auszuüben.
Nur ein Mann, der sehr auf sich gestellt ist, am Rande der Zivilisation, und in herrlicher Indifferenz allem gegenübersteht, das zuvor getan und gesagt worden ist, konnte die Verknöcherung der orthodoxen Medizin aufbrechen.
Doktor Still war ein Naturforscher. Jede Pflanze und jedes Kraut, jede Wurzel, jede Blume und jedes Blatt mit heilenden Eigenschaften waren ihm bekannt. Er heftete seinen Glauben an die einfachen Dinge.
Und wir müssen bedenken, dass es die Zeit war, als alle Ärzte nur Linderung verschafften. Wenn sie einen Menschen von seinen Schmerzen befreien konnten, beglückwünschten sie sich, als wäre er geheilt.
Doktor Still hatte genügend Vorstellungskraft, um zu erkennen, dass hinter den Symptomen eine Ursache stand. Und beständig war er bestrebt, den Grund, weshalb etwas war, ausfindig zu machen.
Ich glaube, dass er der erste Mann in der Geschichte ist, der unumwunden sagte, dass es so etwas wie Krankheit streng genommen gar nicht gibt.
Stattdessen handelt es sich bei diesen individuellen, besonderen Sachen, die wir Krankheiten nennen – sechshundert verschiedene und mehr sind in den Büchern verzeichnet –, nur um Symptome unter jeweils bestimmten Bedingungen.
Verletze ein Mensch die Gesetze der Natur, sei er unter- oder überernährt, sei er geistig verwirrt, wirke der Druck eines Knochens auf die Arterien, sodass der Blutfluss beeinträchtigt werde, oder auf einen Nerv, so vermag dieses Individuum eine oder ein Dutzend dieser sogenannten Krankheiten zu haben.
Fieber, Schüttelfrost, Lungenentzündung, eine Erkältung im Kopf, geschwollene Lider, Hexenschuss, die Brightsche Krankheit, Rheumatismus, Koliken, Pseudokrupp, Masern – alle diese Sachen gehen auf eine spezifische, individuelle Ursache zurück. Und diese Ursache zu bestimmen, dies machte Doktor Still zu seiner Aufgabe.
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