HUBBARD: EINE KLEINE REISE IN DIE HEIMAT VON ANDREW TAYLOR STILL
Autor: Elbert Hubbard
Originatltitel: A Little Journey to the Home of A. T. Still. East Aurora, NY. (1912)
Es war im Jahr 1875, als an einem Sonntagmorgen Henry Ward Beecher seine Kanzel betrat und seiner Gemeinde mitteilte, dass er tausend Dollar brauche, um Bibeln für die armen Leute in Kansas zu kaufen. Er sagte, die Angelegenheit sei absolut dringlich und dass er den Gottesdienst nicht fortsetzen werde, ehe nicht das Geld aufgebracht sei.
Die Gemeinde der Plymouth Church glaubte an Henry Ward Beecher, sodass sie das Geld aufbrachte wie eine Selbstverständlichkeit.
Am nächsten Tag nahm Henry Ward Beecher die tausend Dollar, kaufte davon Sharps-Gewehre und schickte diese an Old John Brown nach Kansas.
Eine dieser „Bibeln“ bekam Major Pond, der mir das Dokument wiederum, als er keine Verwendung mehr dafür hatte, zeigte. Nun habe ich es, seine Initialen sind am Kolben eingeritzt und daneben befinden sich weitere Kerben. Ich weiß allerdings nicht, wofür diese Kerben stehen.
Eine andere dieser Bibeln wurde einem jungen Arzt gegeben, Major Andrew Taylor Still, der als Wundarzt Teil der Truppe war, die Old John Brown kommandierte. Zum ersten Mal hörte ich von Doktor Still aus dem Munde von Major Pond.
Wir waren unterwegs, um Wahlkampfreden zu halten, und wenn ihm die Gesprächsthemen ausgingen, redete der Major immer entweder über Henry Ward Beecher oder über Old John Brown.
Major Pond war den Fußstapfen von John Brown gefolgt, von Pennsylvania nach Ohio, von Ohio nach Iowa, schließlich von Iowa nach Kansas.
Diese Freiheitskämpfer hatten keinen Auftrag und sie machten keine Gefangenen. Sie lebten von dem, was das Land hergab. Alle waren sie Pioniere, draußen in der Natur zu Hause, und selbst wenn sie allein waren, waren sie in guter Gesellschaft, denn sie standen auf gutem Fuß mit den Sternen, mit dem Wolken, mit den Bienenbäumen, mit dem Wild, mit fließenden Quellen, Waschbären, Opossums und dieser ganzen Welt einer zufriedenen, überbordenden, reichen Natur.
Doktor Still war als Arzt für den gesamten Distrikt verantwortlich. Er war achtundzwanzig Jahre alt, als Pond ihm das erste Mal begegnete, und Pond war erst zwanzig. Zwischen ihnen beiden lag also eine Kluft an Jahren, denn für den Körper eines zwanzigjährigen Jungen ist ein Mann von achtundzwanzig ein Veteran.
Der Wundarzt Still richtete dem jungen Jim Pond einmal ein gebrochenes Handgelenk, und so blieb er in der Erinnerung des Mannes, der zum Vortragsmanager von Henry Ward Beecher werden sollte.
Die schlichte, alltägliche Fertigkeit von Major Still, die Leidenden, Kranken und Verletzten zu behandeln, brachte ihm den großen Respekt von Jim Pond und allen ein.
Major Still war ein gebildeter Mann.
Übrigens konnte er hinausgehen und mit einem Stück Wild zurückkommen, wenn sonst auch niemand wusste, wo das Wild war.
Neulich sah ich ein Bild von Rev. Abram Still, dem Vater von Andrew Taylor Still, wiedergegeben nach einer alten Daguerreotypie. Als ich einen Blick auf das Bild warf, sagte ich unwillkürlich: „John Brown.“ Es war da etwas dem Wesen nach Ähnliches im Gesichtsausdruck dieser beiden Männer – hager, schlicht, ernsthaft, intellektuell, starrsinnig, das hochgekämmte Haar strotzend von einem redlichen Kern.
Wenn man will, könnte man sie als religiöse Fanatiker bezeichnen. In jedem Fall aber waren es Männer von großer Leistungskraft.
Und dann, zur gleichen Zeit, sah ich auch ein Bild von Mrs. Martha P. Still, der Mutter von Andrew Taylor Still – eine starke, ernsthafte, edle Frau mit quadratischem Kopf und markantem Kiefer, wie gemacht für einen Mann, der nicht nur den Kampf mit den Elementen, mit Armut und Dummheit aufnehmen, sondern auch einen großen Kampf um die Menschenrechte führen sollte.
Es ist eine großartige Sache, wenn man wohl geboren wird.
Andrew Taylor Stills Eltern waren Leute mit Persönlichkeit und mehr. Sie verfügten über Gesundheit, körperliche Kraft, Geisteshaltung.
Andrew Taylor Still wurde im Jahr achtzehnhundertachtundzwanzig in der Nähe von Jonesboro, Lee County, Virginia geboren.
Wenn man es auf der Karte sucht, wird man feststellen, dass es in den Blue Ridge Mountains ist, einem Teil des Landes, der selbst heute noch abgelegen von der Zivilisation liegt.
Diese Bewohner der Berge von Virginia waren von edler Abkunft, und einige dieser Edlen waren von England ausgesandt worden zum Wohle Englands. Diejenigen überlebten, die sich am besten anpassen konnten, und in den Bergen schufen sie sich untereinander ein eigenes Recht.
Abraham Lincoln war vom selben Schlag – hoch aufgeschossen, schlank, sehnig, knochendürr, besaß er enorme körperliche Kraft und bewegte sich langsam, aber bestimmt auf ein Ziel hin.
Dies ist im Wesentlichen der Typus des Bergbewohners aus Virginia.
Abram Still war ein methodistischer Prediger, ein Wanderprediger, dessen Glück darin bestand, sein ganzes Leben im Grenzland der Zivilisation zu leben.
Ob Andrew Taylor Still nun jemals zur Schule gegangen wäre oder nicht, so wäre er doch ein gebildeter Mann gewesen, und zwar im Sinne eines ausgeglichenen Mannes. Er kannte intuitiv die Gesetze der Gesundheit, und er hatte die Fähigkeit, selbst für sich zu sorgen. Selbsterhaltung ist die erste Regel eines jedes Bergbewohners.
Doch seine Eltern befürworteten eine schulische Ausbildung. Sie glaubten an Disziplin und gewiss waren sie nicht sparsam im Umgang mit der Rute. Eine der Strafen für schlechte Rechtschreibung bestand darin, auf einem Pferdeschädel sitzen zu müssen. Niemand weiß, wie viele scharfe Kanten ein Pferdeschädel hat, solange er nicht auf einem sitzen musste. Und man sollte bedenken, dass die Zeit der Unterwäsche erst nach der Kindheit von Doktor Still begann. Womöglich war genau dies der Anfang der Wissenschaft der Osteopathie oder der Wissenschaft der richtigen Anpassung von Knochen und Geweben.
Im Jahr achtzehnhundertsiebenunddreißig wurde Abram Still von der methodistischen Conference als Missionar nach Missouri geschickt. Missionare waren damals Ärzte der Seele wie auch des Körpers.
Die Bevölkerung bewegte sich entlang paralleler Linien nach Osten oder Westen. Leute aus Virginia zogen nach Tennessee und Kentucky, und dann drangen sie weiter durch den Süden Indianas und von Illinois nach Missouri.
Abram Still war der erste methodistische Prediger im Nordwesten Missouris. Das Land war noch unerforscht und nicht kartiert und zumeist gab es auch keine Straßen – nur die Pfade entlang der Wege von Wildtieren und Büffeln, auf denen die Indianer in ihren Mokassins stapften.
Der Prediger baute mit der Hilfe seiner Familie eine Blockhütte im Wald. Und diese Hütte war eine Schule, eine Kirche, eine Arztpraxis und ein Zuhause, bis weitere Gebäude errichtet werden konnten.
Unten in La Plata gab es eine Schule, die von Rev. Samuel Davidson von der Cumberland Presbyterian Church geleitet wurde. Die Methodisten hielten zwar nicht viel von den Presbyterianern, doch Mrs. Still war entschlossen, ihren Kindern eine vorteilhafte Erziehung zu verschaffen. Deshalb wurde Andrew rasch durch die Wälder dorthin geschickt, all seinen weltlichen Besitz mit einem roten Taschentuch zusammengebunden, zum Zentrum des Lichts und des Lernens.
Zur großen Überraschung des jungen Andrew stellte sich der presbyterianische Pastor als sehr sanftmütiger, freundlicher und besonnener Mann heraus. Er und seine Frau nahmen den Jungen in ihr Haus auf und behandelten ihn, als wäre er ihr eigener Sohn. Und er seinerseits half ihnen. Er hackte Holz, molk die Kühe, versorgte den Garten, kümmerte sich um die Kinder, kochte, wusch und schruppte. Er war das, was man einen Handlanger nennt. Und natürlich ging er auf die Jagd und zum Angeln. Jeder tat das damals.
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