Zwischen achtzehnhundertsechzig und achtzehnhundertvierundsiebzig widmete er sich dem Nachdenken und Studieren, dem Beobachten und Vergleichen, und schließlich ergab sich in seinem Verstand die ausgearbeitete, klare, besondere Wissenschaft, die nun als Wissenschaft der Osteopathie bekannt ist.
Am zweiundzwanzigsten Juni achtzehnhundertvierundsiebzig, als er seine These ausgearbeitet hatte, entließ er sie in die Welt.
Das war ein großer Meilenstein auf dem Weg des Fortschritts.
Die Wissenschaft der Medizin reicht zurück bis auf Hippokrates, der in Athen in jener herrlichen Epoche lebte, die man als das Zeitalter des Perikles kennt.
Vor Hippokrates waren Medizin und Priestertum eins. Zauberformeln hatten eine große Bedeutung in der Heilkunst. Es war allgemeine Überzeugung, dass Krankheit durch einen Teufel verursacht würde, der den menschlichen Körper in Besitz nehme. Deshalb spielten grässliche Geräusche und abstoßende Gerüche eine Rolle, um den Eindringling auszutreiben, der seinen Anspruch erhoben hatte.
Hippokrates scheint herausgefunden zu haben, dass bestimmte Gifte unmittelbare chemische Wirkungen hatten. Er kannte vier starke Arzneimittel, die etwas bewirkten, was er genau vorhersagen konnte, und zwar ein abführendes, ein harntreibendes, ein schweißtreibendes und ein Brechmittel. Indem man diese Arzneimittel verabreichte, ließen sich Ursachen und Wirkungen verfolgen, Abfolge und Konsequenz, und insofern war es wissenschaftlich.
Das Verabreichen von Giften beruhte auf dem alten Irrtum, dass die Person von einem bösen Geist besessen wäre. Der ganze Zweck der ekelerregenden oder giftigen Arzneimittel bestand darin, den Eindringling auszuräuchern und es ihm so unangenehm zu machen, dass er nicht an Ort und Stelle bleiben konnte.
Durch all die Jahrhunderte, über zweieinhalbtausend Jahre, trat dieser Aberglauben zu Tage. Gelegentlich, hier und da, gab es zweifellos vernünftige Ärzte. Aber deren Stimmen vernahmen wir nur in pianissimo.
Es war ziemlich anmaßend von einem Arzt, der an einer allopathischen Schule ausgebildet worden war, seiner Alma Mater abzuschwören, die Verbundenheit mit seinen Berufsbrüdern aufzukündigen und zu erklären, die gesamte sogenannte medizinische Wissenschaft gründe auf einem Aberglauben.
Das ist im Grunde das, was Doktor Still im Jahr achtzehnhundertvierundsiebzig tat. Aber das war keine übereilte Verallgemeinerung, sondern seine Schlussfolgerung war über lange Zeit herangereift, und er zögerte noch einige Jahre, ehe er sie vorlegte.
Nur ein Mann, der in Zeiten der Pioniere geboren und aufgewachsen war, inmitten der Umgebung des Pionierlebens, konnte den Mut und die Kühnheit haben, in dieser Weise alle Brücken zurück niederzubrennen, ohne an eine Fähre oder eine Unterführung zu denken. Notfalls hätte er sich allein direkt ins Freie gestellt und es ausgefochten. Genau das tat er auch. Sogar alles in seinem Wortschatz drehte sich in diese Richtung. Er wurde verleugnet und verurteilt als Fanatiker, als Dummkopf, als Abtrünniger und Rebell.
Doktor Still jedoch blieb bei der geraden Richtung seines Weges.
Statt seinen Patienten in schlechtem Latein geschriebene Rezepte mitzugeben und sie mit Begriffen und in einer Sprache zu verwirren, die sie nicht verstanden, sprach er mit ihnen deutlich in Worten, deren Bedeutung sie begriffen. Er zog den Patienten in sein Vertrauen, freundlich, schonend und bestimmt. Er erlaubte es ihnen, ihren Fall vorzubringen und ihre Symptome zu erklären, da Doktor Still sehr gut verstand, dass dies Teil des Heilungsprozesses war.
Doktor Still begriff, dass wir von dualer Natur waren. Der Mensch besteht aus Materie und Seele.4
Wenn die Seele den Körper verlässt, ist der Mensch tot; doch solange die Seele ihr Lehmhaus5 bewohnt, ist sie mehr oder weniger Herr darin. Der Geist ist der König.6
Und so bestritt Doktor Still auch nicht den Einfluss der Seele auf die Materie, was die alten Männer der Medizin im Grunde getan hatten. Er war kein Metaphysiker. Denn ein Metaphysiker ist jemand, der seine Ansichten sogar vor sich selbst verbirgt.
Die alten Schulen der Medizin waren so gewissenhaft darin, die Leute zu betrügen, dass sie sich im Laufe der Zeit auch selbst betrogen haben. Insofern stellten sie das geflügelte Wort unter Beweis, dass die Strafe für einen Lügner darin besteht, dass er schließlich an seine eigenen Lügen glaubt.
Die Schulen der Medizin wurden auf Lehrbüchern errichtet, die größtenteils im Mittelalter verfasst wurden. Vorlesungen erläuterten diese Lehrbücher und die Studenten wurden für ihre Leistungen darin benotet, auswendig lernen zu können, was ihnen in den Vorlesungen erzählt wurde und was sie in Büchern gelesen hatten. Jede Abweichung von dem, was in Buch oder Vorlesung gelehrt worden war, wurde bestraft.
Dementsprechend gab es eine direkte apostolische Sukzession der Unkenntnis, die sich durch die Jahrhunderte noch vertiefte. Das Geschäft eines jeden Arztes schien großenteils darin zu bestehen, die Dinge, die ihm gelehrt worden waren, zu bewahren und für sie zu kämpfen. Weder verstand er sie, noch begriff er ihre Bedeutung, doch er gründete sein Wissen darauf, was das Buch sagte. Wenn man die Wahrheit oder die Genauigkeit seiner Aussagen anzweifelte, berief er sich voll Stolz auf eine bestimmte Seite und einen Absatz dieses Buches. Das genügte.
Doch Doktor Still genügte es nicht. Er nahm Anstoß an den Büchern. Die erste Position in seinem Diagnoseplan bestand darin, den Patienten in einen entspannten, hoffnungsvollen Gemütszustand zu versetzen, wobei Vertrauen eine ausgezeichnete Rolle spielen konnte.
Dementsprechend erlaubte er es dem Patienten, zu erklären. Mag er auch im Voraus alles gewusst haben, was ihm der Patient zu erzählen hatte, verstand er doch, dass er so etwas wie ein Beichtvater für den Betroffenen war.
Wenn er dann den Mann in einen entspannten körperlichen Zustand gebracht hatte, frei von Spannung, Angst und Sorgen, begann er mit seinen Manipulationen. Er fand den schmerzenden Punkt und kam für sich dahinter, warum der Punkt schmerzte. Für gewöhnlich stellte er fest, dass es dort einen Druck des Knochens auf die Arterie gab, welcher den Blutfluss störte. Seine Aufgabe bestand dann darin, die Knochen so anzupassen, dass der Druck erleichtert und der Blutfluss wieder ausgeglichen wurde.
Zielsicher entdeckte er, dass Druck auf Nerven oder Arterien Krankheiten hervorrief. Schritt für Schritt kam er zu der Erkenntnis, nachdem er viele Tausende an Fällen behandelt hatte, dass diese sogenannten Krankheiten in verschiedene allgemeine Typen zerfielen. Auf diese Weise wurde aus der Manipulation der Knochenstruktur des Körpers eine Wissenschaft, und dem folgte die Linderung für die Betroffenen. Doch Doktor Still vergaß nicht, dass der gesunde Menschenverstand nicht nur in der Heilkunst, sondern auch im Leben an erster Stelle stand.
Damit es ihm gut geht, muss ein Mann nicht nur gut mit seiner Frau, seinen Kindern und seinen Nachbarn auskommen. Er muss auch gut über sich selbst und über die Natur denken. Er muss Pferde lieben, Rinder, Geflügel und Haustiere; und je stärker er sich für die großartige wimmelnde, atmende Welt jenseits der Türen interessierte, desto besser stehen seine Chancen, dass er gesund bleibt.
Doch darüber hinaus ist der Körper des Menschen ein mechanischer Apparat, und wenn die Gelenke verschoben sind oder anomal, so folgt dem gewiss eine Fehlanpassung, und diese Fehlanpassung wird Krankheit verursachen.
Osteopathie ist schlicht die Anwendung des gesunden Menschenverstands. Das Offensichtliche ist das Letzte, was Menschen lernen, und zwar insbesondere gelehrte Menschen, da gelehrte Menschen meistens nur gelehrt sind in der Wissenschaft der Bücher, nicht aber in der Welt der Natur.
Ein guter Osteopath muss sich nicht nur mit der Anpassung der Knochenstruktur des menschlichen Körpers auskennen, sondern er eignet sich umso besser zur Ausübung der Heilkunst, je mehr er über das Leben im Allgemeinen weiß. Wer nur England kennt, weiß wenig über England.7
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