Ich habe nicht geahnt, was das bei Hoover entfesselt. Schneller als ich reagieren kann, bringt er dem schmächtigen Metall-Herren seine Zuneigung entgegen, röppelt die lange Laufleine ab und steht nach einem Fünf-Meter-Spurt aufrecht an der erschreckend realistisch geratenen Skulptur, um ihr ein, zwei herzliche Begrüßungsschlabberer ins kühle Gesicht zu kleben.
Die Silhouette muss er selbst ohne jede Gestik, ohne Mimik und ohne Körperwärme erkannt haben. Und weil er durch Menschen noch nie etwas Übles erlebt hat und wir uns ja im Großen gesehen sowieso alle dieselbe Welt zur selben Zeit teilen und das im Kleinen auch für das Rasenstück neben dem Hotel im Rousillon hier in der südfranzösischen Provinz gilt, fällt jene Begegnung sehr herzlich aus. Wenn auch gänzlich einseitig.
Ich rufe so etwas wie »Hey« und »Halt« und »Hierher, zurück«, um die Lage möglichst ebenso schnell wieder unter Kontrolle zu bekommen, wie sie einen Moment vorher eskaliert ist. Hoover unterdessen lässt seinerseits von dem nicht sonderlich empathischen Herrn ab, bei dem es sich laut gestanzter Blechplakette am keine zehn Zentimeter hohen Sockel um das Ehrenmal für die am Bau der Autobahn beteiligten Arbeiter handeln soll. Ich muss lachen. Nicht über das seltsame Denkmal, das von der Größe her eher wie ein Mahnmal gegen Kinderarbeit wirkt, sondern über meine Arglosigkeit. Über mein Tier. Über die Situation an sich. Und ich bin froh, dass gerade niemand zu sehen ist. Und uns hoffentlich umgekehrt auch niemand gesehen hat. Und ganz besonders darüber, dass sich das Männlein als standfest erwiesen hat, offenbar gut auf seinem Sockel festgedübelt ist.
Wir fahren besser weiter. Noch gut 650 Kilometer sind es bis zum herbeigesehnten Ferienhaus im unmittelbaren Hinterland der Costa Blanca. Mit Hund auf der Rückbank, fürs Erste wieder lang ausgestreckt und im Winterschlafmodus, den er in der Sekunde nach Betreten des Fahrzeugs angeknipst hat.
Terrain markieren – endlich angekommen
Wahrscheinlich strahle ich kurz vorm Ziel plötzlich diese Mischung aus Vorfreude und gewisser Anspannung aus, irgendwelche erweckenden Schwingungen. Jedenfalls sitzt Hoover ungefähr anderthalb Kilometer vorm Ziel plötzlich aufrecht auf der Rückbank und scannt in größter Aufmerksamkeit mit Blicken die gesamte Umgebung. Seine Nasenflügel vibrieren, als würde er filtern und analysieren, was da durchs inzwischen halb offene Fahrerfenster hereinströmt, und irgendein inneres Labor würde binnen Sekunden den Rosmarin-Anteil und das Orangenblüten-Duftvolumen ans Hirn durchgeben und zu dieser Erkenntnis verdichten: Es riecht hier gänzlich anders als zuhause.
Und es sieht auch ganz anders aus: in die eine Richtung Orangenplantagen ohne ein Hügelchen dazwischen bis zum drei Kilometer Luftlinie entfernten Mittelmeer, in die andere Richtung bis zu 800 Meter hohe Berge mit Pinien, mit Kiefern, in den tieferen Lagen mit Mandelbäumchen.
Auch die Temperatur ist im Hinterland der Costa Blanca gut 36 Stunden nach dem Aufbruch im steif gefrorenen Norddeutschland mit angenehmen 22 Grad und Sonnenschein ganz anders. Ein kleiner Sommer mitten im Winter.
Dass die Temperatur hier unter den Gefrierpunkt rutscht, kommt im Grunde nicht vor. Dass sie im Januar und Februar auf über 30 Grad steigt, auch nicht. Aber dazwischen ist alles drin. Es gibt Tage, da wird es kaum wärmer als acht Grad, und es ist nebelig. Und es gibt welche, da ist es 25 Grad warm. Die schöne Begrüßung jedenfalls ist eine nette Geste der Natur.
Irgendwo hier am Berg zwei Straßen und drei Haarnadelkurven weiter klebt das Ferienhaus am Hang, viel tiefer als die ein paar entscheidende Grad kühleren Gipfel, aber hoch über den Orangenbäumchen. Und mit bestem Blick aufs Mittelmeer, das sich als dunkelblaues Band den Horizont unter dem hellblauen Himmel entlangspannt.
Als endlich die Handbremse angezogen und der Motor ausgestellt ist, endlich die hintere Autotür aufgeht und schließlich auch noch das Haltegeschirr vom Hund gepellt und aus der Befestigung des Sicherheitsgurtes losgeklickt ist, gibt es für Hoover kein Halten mehr: Im Zickzack rast er die schmale Sackgasse am Hang entlang, 50 Meter runter, 100 Meter bergauf bis zur nächsten Kurve und dem übernächsten Nachbarhaus, hebt mal an einem Stück Granit, mal an einem Rosmarinstrauch das Bein, gleitet mit der Nase nur Millimeter über dem Boden entlang, um alle Gerüche der neuen Umgebung auf einmal aufzusaugen – und herauszufinden, ob hier wohl auch Hunde sein mögen.
Ich erkundige mich sicherheitshalber bei ihm: »Und sind hier auch Hunde?« Das letzte Wort kennt er. Er dreht sich dann einmal um die eigene Achse und schaut in alle Richtungen, ob er irgendwo einen Artgenossen entdeckt. Zu sehen ist gerade keiner, und nur aus der Ferne bellt der Wachhund des Orangenbauers irgendetwas auf Spanisch aus der Plantage ganz unten im Tal. Die Berge der Umgebung spielen mit dem Geräusch fangen, pritschen es noch ein paar Mal hin und her. Hoover horcht. Er springt an mir hoch. Und versucht am Ohr zu knabbern. Was das diesmal wahrscheinlich heißen soll? Vermutlich so viel wie »Hurra, endlich da« und außerdem »Ist das schön hier! Wir zwei in den Ferien! Das alles werden wir gemeinsam erkunden! Und ganz viele Hunde kennen lernen!« Aber als Erstes schließen wir das schwarze Gitter-Rolltor zur Einfahrt auf, inspizieren das weiß gestrichene Ferienhaus am Hang und räumen bald danach das vollgepackte Auto aus.
Zuhause wohnen wir zu ebener Erde. Insofern ist Hoover nach kurzer Analyse der hiesigen Wohnsituation mit zwei Schlafzimmern, Abstellkammer, Bad, Küche und großem Wohn- und Essbereich lediglich irritiert darüber, dass er von der Veranda aus zwar den perfekten Überblick über Straße, Einfahrt, Auto und Umgebung hat, aber eben nicht schnurstracks in die Pampa sprinten kann. Er schaut mich verwundert an und nimmt die Treppe offenbar nicht als Ausgang wahr, die auf die eine Etage tiefer am Hang liegende Terrasse mit Pool führt, obwohl er bei Freunden durchaus Treppen steigt. Für ihn ist diese Veranda ein Balkon. Und auch auf meine Freigabe »Na, dann lauf, is’ gut« und den Fingerzeig Richtung Treppe reagiert er nicht.
Ich muss vorgehen. Und selbst dann wartet er noch, bis ich heil unten angekommen bin, ehe er vorsichtig eine Pfote vor die andere setzt und erst auf dem letzten Drittel der Stiege plötzlich beschleunigt. Gleich danach springt er wieder begeistert an mir hoch, als müsse er den kleinen Triumph, es sich getraut und dann auch noch geschafft zu haben, sogleich feiern.
Wie zur Bestätigung rennt er dieselbe Treppe, die eben noch ein Problem war, gleich noch dreimal hintereinander rauf und runter, um sich anschließend ganz auf die Terrasse zu konzentrieren und jeden Winkel abzuschnaufen. Bis er sich anderthalb Meter weit auf die vielleicht vierzig Zentimeter breite und aus so etwas wie schweren, breiten Gehwegplatten gebaute Balustrade des nierenförmigen Schwimmbads verirrt hat. Das an sich ist kein Problem, denn sie ist nicht nur begehbar, sondern durchaus auch als Weg gemeint, auf dem man den kleinen Pool umrunden kann. Ein schwarzes Gitter, das um die Hälfte höher als der Hund ist, sichert den Rand zum Abgrund hin ab. Und da hier einiges an Hang auszugleichen war, geht es vom Rand der Balustrade mehr als zwölf Hundshöhen in die Tiefe – etwa acht Meter –, ehe da unten wieder Macchia-Bewuchs mit Rosmarin, Disteln und einem kleinen Olivenbäumchen folgt.
Dieses Szenario scheint ihm plötzlich gewahr zu werden. So freudig er auf jene Balustrade gesprungen und losgelaufen ist, so unvermittelt bremst er, als er jetzt die mögliche Fallhöhe erkennt. Und nun steht er völlig versteift da und rührt sich nicht mehr. Kann nicht vor, nicht zurück. Er zittert. Aus eigenem Entschluss schafft er es in keine Richtung mehr. Kein Rufen hilft, zu keinem Rangieren kann er sich durchringen. Erst blickt er noch zur Seite durchs Geländer hindurch Richtung Abgrund, bald nur noch senkrecht auf die Platten. Ich muss aus der anderen Richtung um das große Planschbecken herum angelaufen kommen, ihm gut zureden und mit viel Kraft erst das eine Vorderpfötchen vom Boden lösen und zehn Zentimeter weiter hinten wieder abstellen, dann das andere, und ihn so Stück für Stück zurück manövrieren, bis er endlich nicht mehr zittert und sich den letzten halben Meter bis zu Terrasse selber zurückzieht.
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