»Was ist denn hier los?«, fragte meine große Tochter mich also verwundert, als sie die Küche betrat. Ich drehte die Lautstärke herunter und lehnte das Fenster an.
»Was soll los sein, mein Schatz? Ich koche und höre Musik. Das habe ich früher immer so gemacht.«
Nun gut, »früher«, das war lange her. Das war, bevor sie auf die Welt gekommen war. Aber es war nicht gelogen. In den Zeiten v. H., vor Hanno, lief, wann immer ich kochte, putzte oder aufräumte und wann immer mir danach war, laute Musik. Quinn hatte das nie gestört. Wie kam ich denn plötzlich auf den?
»Du hörst Placebo, Mama!« Es klang wie ein Vorwurf.
»Ja, und? Darf man das in meinem Alter nicht? Ich hab schon Placebo gehört, da warst du noch Quark im Schaufenster, mein Schatz.«
»Die sind voll cool! Jakes Schwester steht total auf die, sie hat uns das letzte Album vorgespielt, das mit diesem voll tollen Song über all diese virtuellen Facebook-Freunde und wie doof das eigentlich alles ist …«
Astrids älterer Sohn Thiago, den alle Jake nannten – Thiago war die spanische Form von Jakob –, ging ebenfalls auf Helenes neue Schule und war seit dem Jahreswechsel ihr erster Freund. Ich mochte Jake und konnte gut verstehen, dass sich Helene in ihn verguckt hatte. Er sah toll aus mit seinen schwarzen lockigen Haaren und den schönen, dunklen Knopfaugen. Jake war fünfzehn und spielte Handball im Verein. Als Linkshänder und auffällig effektiver Spieler war er vor den Weihnachtsferien von den Reinickendorfer Füchsen gesichtet worden. Seit der Rückrunde gehörte er der ersten C-Jugend-Mannschaft der Füchse an. Er trainierte dreimal in der Woche im Norden Berlins. Helene begleitete ihn an den Wochenenden zu jedem Ligaspiel, seit sie ein Paar geworden waren, und kannte sich bereits recht gut aus im Regelwerk und den Spielsystemen. An den Abenden, an denen Jake Training hatte, lag sie schmachtend auf ihrem Bett und chattete endlos mit ihrer besten Freundin Lavinia.
Jakes zwei Jahre ältere Schwester, Pilar, befand sich im zweiten Kurshalbjahr der Oberstufe und würde im nächsten Jahr ihr Abitur machen. Die kleine Schwester der beiden, Marisol, ging in dieselbe Grundschulklasse wie Daniel. Ich war sehr froh über diese Verbindungen mit den Alvarez Garcias.
Wo meine zahlreichen anderen Freunde waren, fragen Sie? Diese Frage hatte ich mir auch mehrmals in den vergangenen Monaten gestellt, und ich hatte mir eingestehen müssen, dass ich meine alten Freunde im Laufe der Jahre mit Hanno immer mehr vernachlässigt hatte, bis die Kontakte schließlich eingeschlafen waren. Hanno fand die meisten von ihnen ohnehin keinen passenden Umgang für mich, sie seien zu jung und zu unreif . Und ich hatte doch schließlich ohnehin genug zu tun: die Kinder, das Haus, der Garten, Hannos Termine. Das alles hatte mir kaum Zeit gelassen, mal mit Freunden auszugehen oder Sport zu treiben.
Als Kind und als Jugendliche hatte ich in jeder freien Minute auf Roll- oder Schlittschuhen gestanden, und bevor die Kinder kamen, war ich eine passionierte Läuferin gewesen. Ich hatte auf die Halbmarathonstrecke hin trainiert, als ich zum ersten Mal schwanger wurde. Hanno hatte mir damals nahegelegt, keinen Sport mehr zu treiben. Ich sollte lieber nichts riskieren, fand er, und ich tat ihm den Gefallen. Er war ja so besorgt um mich, das fand ich süß. Und nach Helenes Geburt befand er, Joggen oder Inlinern mit Kinderwagen passte nicht zu uns. Also zog ich nach jeder Entbindung mit dem robusten Kinderwagenmodell einer Edelmarke gemessenen Schrittes meine Bahnen durch Kleinmachnow, Hanno zuliebe und des lieben Friedens wegen. Einzig Franziska Becker schaute bei mir vorbei – zumindest immer dann, wenn sie etwas auf dem Herzen hatte oder etwas in ihrer Küche fehlte.
»Mama, seit wann hörst du denn so übelst krasse Musik?«, hakte Helene nach.
Ich legte das Küchenmesser beiseite und blickte meine große Tochter an. Sie war nur noch ein paar Zentimeter kleiner als ich, hatte dunkelblonde lange Haare, strahlend blaue Augen, eine hübsche Stupsnase und einen geschwungenen Mund, der seit einiger Zeit viel zu selten lächelte. Pubertät war ein hässlicher Job, und wenn man vom Vater hängengelassen wurde, war er besonders hässlich. Nicht zum ersten Mal dankte ich meinen Eltern innerlich für die Dominanz ihrer Gene, die dafür gesorgt hatten, dass meine Kinder ihrem Vater nur wenig ähnelten. Helene würde ihre Zahnspange zwar noch ein Jahr tragen müssen, aber selbst mit dem Metallgebiss war sie ein hübsches Mädchen. Sie war im Laufe der letzten Monate stark gewachsen, und ihre Züge hatten jene Kindlichkeit verloren, die ich ihr im vergangenen Sommer noch hatte ansehen können. Sie war, vermutlich auch durch die Ereignisse im Herbst und Winter, zu einer jungen Frau herangereift. Mir schwante, dass ich ein gewisses Thema nicht mehr lange vor mir herschieben konnte. Zunächst galt es aber, mir ein paar Pluspunkte in Sachen Musikgeschmack zu verschaffen.
»Lelli, ich habe früher ganz viel krasse Musik gehört.« Den Spitznamen hatte sie von ihrem Bruder bekommen. Vincent hatte seine große Schwester so genannt, als er noch nicht richtig sprechen konnte. »Du hast dir wohl nie die Mühe gemacht, mal meine CDs durchzusehen, was?« Jetzt galt es, meinen größten Trumpf auszuspielen. »Ich habe sogar 1998 einen der ersten Coldplay-Auftritte gesehen, in Camden, als die noch niemand kannte. Das war gigantisch!« Das ganze Wochenende mit Quinn in London war gigantisch gewesen, wenn ich so darüber nachdachte.
Helene klappte die Kinnlade herunter. Coldplay war ihre absolute Lieblingsband. Dann schloss sie ihren Mund wieder, sagte noch einmal »Krass!« und stellte sich neben mich an die Arbeitsplatte. Es war schon lange nicht mehr vorgekommen, dass Helene mir freiwillig im Haushalt half. Sie nahm das Küchenmesser und schnitt die Möhren in Halbkreise. Das Telefon klingelte. Ich fand das Mobilteil unter der Zeitung und ging damit in den Flur.
Caterina Thomas.«
»Trinchen, hier ist deine Mutter.«
Ich hatte irgendetwas tun müssen, das mir nach den vergangenen Monaten wenigstens ein Stück weit das Gefühl der Ohnmacht nahm, und im März meinen Mädchennamen wieder angenommen. Frau Krause, eine sehr freundliche und verständnisvolle Mitarbeiterin des Bürgeramtes, hatte dies möglich gemacht. Ich hatte ihr erklärt, was geschehen war, und sie befand kurzerhand, der Nachname Hecht sei einzuordnen in die Kategorie lächerlicher Nachnamen , böte überdies Anlässe zu frivolen Wortspielen , und gab meinem Antrag auf Namensänderung statt. Beim Osteressen informierte ich meine Familie über den neuen alten Namen und über meinen Entschluss, auch den ungeliebten, von Hanno kreierten Spitznamen abzulegen, und bat alle, mich wieder Catia zu nennen. Ich hatte die Bitte an meine Mutter, mich nicht mehr Trinchen zu nennen, in den vergangenen Wochen gebetsmühlenartig wiederholt.
»Mama, wärst du so gut und nennst mich nicht mehr Trinchen? Diese Zeiten sind vorbei. Du hast doch früher auch immer Catia gesagt.«
Es folgte die Art beredtes Schweigen, wie sie nur meine Mutter hinbekam. Dann holte sie tief Luft, als müsse sie sich gegen weiteren Wahnsinn wappnen. »Wie du meinst, Trin … ich meine, Catia. Ich denke nur nicht, dass das in deiner Situation irgendeinen Unterschied macht.«
In »meiner Situation«! Was sie nicht aussprach, war der stille Vorwurf, an »meiner Situation« sei eindeutig ich selber schuld. Ich hatte den großartigsten aller Schwiegersöhne vergrault. So liederlich, wie ich mich kleidete, konnte das ja auch nicht wundernehmen. Und mein Haushalt ließ ebenfalls genug zu wünschen übrig. Richtige Ordnung, wie sie ein derart erfolgreicher Mann wie Hanno wohl verlangen konnte, herrschte dort nämlich nie.
Warum steht sie nie auf meiner Seite? , fragte die Fünfzehnjährige in mir. Die Fünfundzwanzigjährige neben ihr fügte hinzu: Und warum ist sie zugleich so abgebrüht im Stricken boshafter Zusammenhänge?
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