Unser Eifer fand bei unseren Lehrern großes Lob. Jeden Tag registrierten sie mit Genugtuung, wie viel Tinte und Papier wir schon benutzt hätten und rühmten unsere große Aktivität, die ihnen als Beweis für unsere revolutionäre Motivation und Einstellung dienen konnte. Wir sollten nur so weiter machen! Wir fühlten uns gebauchpinselt und ermutigt, immer mehr Wandzeitungen und Karikaturen zu produzieren.
Dabei steigerte sich unser Übermut ins Grenzenlose. Wir glaubten immer neue Personen zu identifizieren, die unserer Meinung nach zu den verdächtigen »Schlangengeistern« zu rechnen wären und die aus uns manchmal selber nicht erklärbaren Gründen ins Revier der Revisionisten geraten zu sein schienen. Der Kreis der kritisierten Opfer wuchs wie ein Schneeball. Unsere Wandzeitungen fielen wie Blätter vom Baum. Bald waren alle Wände voll gehängt. Nicht genug damit. Eine Wandzeitung hatte man kaum lesen können, der Klebstoff war noch nicht einmal richtig trocken, da wurde sie schon von einer neuen überdeckt, so dass am Ende viele Wandzeitungen übereinander hingen und deren Zeichen so gut wie nicht mehr lesbar waren.
Als im Eifer des Gefechtes schließlich immer mehr Lehrpersonal karikiert und ein Pädagoge nach dem anderen vermeintlich als »Bösewicht« entlarvt und auf diese Weise verunglimpft wurde, begann ich doch langsam nachdenklich zu werden und mir Gedanken zu machen – meines Vaters wegen. Ich erinnere mich heute noch daran, eines Tages meine Mutter gefragt zu haben, ob mein Vater als Parteisekretär der Schule vielleicht auch in Gefahr geraten könnte, da jetzt so viele Funktionäre unserer Schule schon aus ihrem Amt gejagt worden waren. Meine Mutter hatte mich damals beruhigt mit den Worten, das sei höchst unwahrscheinlich. Denn gegen meinen Vater gebe es seiner makellosen Vergangenheit wegen kaum Gründe für eine solche diffamierende Kritik, wie sie gegenwärtig allerorten wütete. Schließlich war mein Vater schon mit sechzehn Jahren in die kommunistische Partei eingetreten, zu einer Zeit also, als diese Partei noch nicht einmal offiziell etabliert war. Damals galt er öffentlich lediglich als ein Grundschullehrer, der er tatsächlich war, aber in Wirklichkeit war er überdies hauptsächlich zuständig für die Werbung neuer Mitglieder der Kommunistischen Partei. Er versuchte alle möglichen Leute für die Partei zu gewinnen. Er hatte bei seinem Engagement für die Kommunisten viele Probleme und Gefahren zu fürchten, sogar sein Leben aufs Spiel setzen müssen. Denn wäre seine geheim gehaltene politische Tätigkeit von der damaligen Regierung vor der Gründung der VR China, d.h. bei den damaligen Gegnern der Kommunisten, herausgekommen, dann hätte er sogar mit der Enthauptung rechnen müssen. Dies müssten doch zumindest seine Parteigenossen zu schätzen wissen und somit für ihn bürgen. Deshalb sei er auch schon in jungen Jahren mit der hohen Position des Parteisekretärs betraut worden. Auch hinsichtlich seiner Herkunft würde man vielleicht keinen Kritikpunkt finden, denn mein Vater stammte aus einer mittelreichen Bauernfamilie, aber da seine Familie keine Knechte beschäftigt hatte, zählte sie deshalb regulär nicht zu den Großgrundbesitzern und gehörte mithin zu einer sozialen Klasse, die nicht zu den Ausbeutern rechnete. Mein Vater könne sich der Solidarität der Kommunisten im Grunde sicher sein. Meine Mutter betonte außerdem, seit der Gründung der Volksrepublik habe es schon so viele politische Bewegungen gegeben, doch mein Vater habe immer auf der Seite der überzeugten Kommunisten gestanden, welche die anderen entlarvt und aus den Ämtern gejagt hätten. Und deshalb, davon war sie fest überzeugt, könne ihm auch dieses Mal nichts Widriges zustoßen.
Hinsichtlich ihrer selbst, so meine Mutter, brauchte ich mir auch keine Sorgen zu machen. Ihre Eltern wären einmal ziemlich reich gewesen, doch seit ihre Großmutter immer tiefer dem Opiumrausch verfallen sei, habe dies Folgen für ihre Familie gehabt, sie sei nämlich allmählich immer ärmer geworden, weil man wegen der Sucht ihrer Großmutter immer mehr Schmuck, später sogar Häuser und einiges Ackerland hatte verkaufen müssen. Entscheidend und zukunftsbestimmend war die Tatsache, dass ihre Familie bei der Bodenreform Anfang der fünfziger Jahre nicht der Klasse der Großgrundbesitzer zugeschlagen worden war. Dafür maßgebend war der Umstand gewesen, dass ihr Vater und dessen zwei Brüder kurz vor der Bodenreform das übriggebliebene Eigentum der Familie unter sich aufgeteilt hatten. Außerdem hatte ihr Vater seine Nebenfrau gehen lassen müssen, weil die Sitte der Polygamie inzwischen abgeschafft worden war. Ihr Vater hatte deshalb eine Heirat seiner Nebenfrau mit einem seiner älteren Knecht arrangiert. Dafür hatte er zudem einen beträchtlichen Teil seines Vermögens eingesetzt. Alle dieser eigentlich unglücklichen Umstände hatten schließlich doch zu einem glücklichen Ende geführt. Denn bei der Bodenreform hatten sich diese Momente als eine Rettung erwiesen: Der Vater meiner Mutter war verschont geblieben von der Zuordnung zur Klasse der ausbeutenden reichen Bauern und Grundbesitzer. Die Eltern meiner Mutter gehörten also auch zu der Gesellschaftsschicht, mit der sich die Kommunisten solidarisch erklärten.
Ich hatte die beschwichtigenden Erklärungen meiner Mutter damals noch nicht ganz begriffen, aber sie hatten doch die Wirkung einer Beruhigung. Ich fand mich in meiner kindlichen Begeisterung und Aktivität für die Ziele der kommunistischen Revolution (der Kulturrevolution) durchaus bestätigt und sah zuversichtlich in die Zukunft. Eine Bestätigung blieb auch von anderer Seite nicht aus. Meine Wandzeitungsartikel und Karikaturen im Dienst der Revolution wurden jetzt von allen immer wieder bewundert. Alle fanden sie ausgezeichnet und komisch. Ich durfte mich beinahe in einem Rausch baden.
Und in meinem Übermut wollte ich jetzt auch meinen Eltern und unseren Nachbarn imponieren und ihnen demonstrieren, wie gut ich inzwischen außerdem in der Technik der Kalligraphie vorangekommen war. Dazu diente mir als Muster ein Slogan, für den ich extra ein ungewöhnliches grünes Papier aussuchte, auffällig genug, weil die meisten ihre Slogans auf ein rotes Papier schrieben. Ich nahm einen besonders großen Pinsel und malte überaus sorgfältig und in kalligraphischer Manier, wobei ich mich wahnsinnig anstrengte, einen Slogan hin mit dem Wortlaut: »Nieder mit allen Schlangengeistern und Rinderdämonen!« Damit die hier beschworenen Geister und Dämonen in meiner Kalligraphie auch recht lebendig und bedrohlich wirkten, hatte ich versucht, die Formen der Bögen und Striche so zu konturieren, dass sie geradezu in weitem Schwung herumtanzten und dass sie bösen Geistern wirklich ähnlich schienen. Damit jeder auch sehen konnte, dass die schöne Kalligraphie von meiner Hand stammte, hatte ich unter den Slogan sogar meinen Namen geschrieben, was eigentlich nicht üblich war. Dann hatte ich das frisch hergestellte Blatt auf die Vorderwand unseres Wohngebäudes gehängt. So wurde man tatsächlich auf meinen Slogan sofort aufmerksam, und ich konnte schon am selben Abend die erste Ernte einer wahren Bewunderung einfahren.
Als ich am zweiten Tag von der Schule nach Hause kam, noch ganz in stolzen Gedanken über meine gelungenen Karikaturen, trug ich mich in der Hoffnung, neue Lobgesänge meiner Nachbarn wegen meines Slogans vor unserem Haus zu hören. Bestimmt hatten noch nicht alle bemerkt, dass die schöne Kalligraphie dieses Slogans doch von mir stammte. Näher gekommen sah ich eine aufgeregte Menschenmenge vor unserem Haus versammelt. Mich erfasste bei diesem Anblick ein jäher Schrecken, besonders als ich meinen Vater mitten in diesem Kreis entsetzlich erregter Menschen wahrnehmen musste. Bei näherem Hinsehen war er offenkundig von Rotgardisten umringt. Diese schienen meinen Vater mit einem Schwall entsetzlicher Vorwürfe zu bombardieren. Mein Vater verhielt sich vergleichsweise besonnen und gefasst und schien mit einer entschlossenen Handbewegung etwas wie eine Erklärung abzugeben. Aber seine Worte versandeten in dieser Brandung der brüllenden und schreienden Menschenmasse. Einige der Rotgardisten wurden sogar handgreiflich gegen ihn. Soweit ich es verstehen konnte, schleuderten ihm die Rotgardisten kritische Worte wie »Revisionist«, »Abweichler auf dem kapitalistischen Weg« »Konterrevolutionär«, und ähnliche Schimpfworte ins Gesicht.
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