Meine Gedanken waren vorübergehend ganz in Erinnerung an Großmutters Lebensgeschichte versunken. Doch jetzt schaute ich wieder hinüber zu meinem Vater, der immer noch auf die Großmutter einredete, und dachte, wann die beiden endlich fertig wären mit ihrem ernsten Gespräch, wann es endlich nach Hause gehen würde. Denn so langsam spürte ich meinen Magen knurren. Mein Vater schien meine Ungeduld bemerkt zu haben und rief mich zu ihnen. Meine Großmutter öffnete ihr mit einem Tuch umspanntes Gepäck und holte eine große Tüte mit geschälten und sogar gerösteten Erdnüssen heraus. Mein Vater ergriff eine Handvoll davon und steckte sie in meine Jackentasche. Und damit schickte er mich erneut zum Spielen in seiner Nähe fort. Die wichtige Unterredung hatte also doch immer noch kein Ende gefunden. Ich setzte mich wieder unter meinen Baum und begann, die Nüsse zu essen. Als ich die ganze Portion verdrückt hatte, schaute ich wieder hinüber zu den beiden, die immer noch einander gegenüber saßen, kaum noch miteinander sprachen, immer wieder sich schweigend ansahen. Mir riss so langsam die Geduld, wann würden wir denn endlich nach Hause gehen? Mein Vater schien sich damit immer noch Zeit zu lassen. Mir blieb nichts anderes übrig, als doch weiter zu spielen und mich selbst zu beschäftigen. Ich tauchte erneut in meine Erinnerungen ein. Was hatte mir nicht die Großmutter alles früher erzählt?
Sie war eine begnadete Erzählerin, und ich hatte ihr gern gelauscht, auch wenn ich manchmal dabei keine aufmerksame Zuhörerin gewesen und manchmal während ihrer Erzählung sogar eingeschlafen war. Das jedoch hatte sie niemals gestört, sie war meist in ihrem Erzählfluss geblieben. Vieles von dem, was sie mir damals erzählt hatte, habe ich erst sehr viel später verstanden. Von ihr hatte ich gehört, dass sie vor der Geburt meines Vaters noch zwei Töchter zur Welt gebracht hatte. Doch diese waren kurz nach der Geburt gestorben, an irgendeiner Krankheit. Großmutter hatte mir auch gesagt, dass sie schlecht von ihren Schwiegereltern behandelt worden sei, denn sie hatten ihr übelgenommen, dass sie keinen Sohn geboren hatte und offenbar dazu nicht fähig war. Erst nachdem dann mein Vater auf die Welt gekommen war, hatte sich ihr Leben qualitativ geändert. Seitdem hätte sie aufatmen können und einen festen Platz in der Familie gewonnen. Jetzt erst hatte man sie als Person wahrgenommen. Ich habe vermutet, dass meine Großmutter meinem Vater vielleicht deshalb sehr dankbar war, weil er die Ursache dafür war, dass ihre Position in der Familie entscheidend gestärkt worden war. Auch hatte sie vielleicht meinem Vater ihr weiteres Glück zugeschrieben, als wenn er ihr den Weg dafür geöffnet hätte, dass sie seit seiner Geburt nur noch Söhne in die Welt gesetzt hatte. Weitere vier Söhne hintereinander hatte sie dann der Familie geschenkt. Und mit der Geburt eines jeden Sohnes war ihre Bedeutung in der Familie gestiegen.
Meinen Großvater hatte man keineswegs zu den Armen zählen dürfen, aber er konnte es sich doch nicht leisten, mehrere Söhne in die Schule zu schicken. Da mein Vater der älteste Sohn war, hatte nur er den Vorzug einer Bildung und Förderung gehabt. Seinen Brüdern blieb dies notgedrungen verwehrt, sie hatten alle mit der Arbeit auf dem Land und auf den Feldern ihr Leben bestreiten müssen.
Früher hatte man seine Schulgebühren nicht mit Bargeld bezahlt, sondern mit Getreide. Jeweils nach den Ferien hatte also mein Vater zwei große Säcke Getreide mit einer Stange auf den Schultern in die Schule tragen müssen, um damit seine Gebühren zu begleichen.
Kaum zu glauben, aber noch ein anderes und besonderes Geheimnis hatte mir meine Großmutter verraten. In der Zeit vor der Bodenreform zu Beginn der fünfziger Jahre, womit die Epoche der feudalistischen Gesellschaft zu Ende ging, hätte der ganze Hof mit der Haupthalle und dem Ost - und Westflügel meinem Großvater allein gehört, geräumig und gemütlich eingerichtet, vor dem Tor zwei kleine Löwen aus Stein als Wächter, außerdem das weite Ackerland direkt hinter dem Hof gelegen. Nach den Bestimmungen der Bodenreform mussten alle reichen Bauern ihr ganzes Vermögen, das ihnen durch »Ausbeutung« zugefallen war, an die armen Bauern zurückgeben. So hatte man entsprechend den Hof meines Großvaters, das heißt den Ost- und Westflügel jeweils zwei armen Bauernfamilien zugewiesen. Nur der Hauptteil des Hofes mit der größeren Halle und mit drei Zimmern im Zentrum war dem Großvater als Eigentum geblieben. Das Ackerland hinter dem Hof hatte man kollektiviert, es gehörte jetzt der Volkskommune. Immer wenn meine Großmutter davon erzählte, dann war sie ins Flüstern geraten, als ob sie fürchtete, hinter der Wand könnten Ohren lauschen. Sie schien sich mit dieser Tatsache noch nicht abgefunden zu haben, denn sie betonte immer wieder nachdrücklich, Hof und Ackerland nicht durch Ausbeutung, sondern durch eigenen Fleiß erworben zu haben.
In der Abenddämmerung waren wir manches Mal aus dem Hof hinausgegangen und hatten die Gelegenheit genutzt, ein wenig Gemüse aus dem Ackerland hinter unserem Hof zu holen, das jetzt ja der Volkskommune gehörte. Meine Großmutter hatte dann für mich Wache gestanden, hatte am Hoftor gelehnt und nach allen Richtungen Ausschau gehalten. Wenn sie niemanden hatte kommen sehen, dann hatte sie mir ein Zeichen gegeben, dann war ich geduckt aufs Feld gelaufen, hatte einige Rüben gezogen oder ein paar Tomaten stibitzt. Meine Großmutter aber blieb stets bei ihrer Überzeugung, dass dies kein Klauen sei, hatte doch das Ackerland früher meinem Großvater gehört. Sie hatte sich im Recht gewusst und es deshalb für legitim erachtet, wenn wir uns vom im Grunde genommen eigenen Ackerland bedienten. Diese Bestimmung galt auch für den eigenen Gemüsegarten, den man ebenfalls nach der Bodenreform nicht mehr privat betreiben konnte, obwohl meine Großmutter eigentlich einen ziemlich großen Garten hatte. Doch jegliche Privatnutzung galt jetzt als unrechtmäßig, nicht einmal ein paar Lauchstangen oder Zwiebeln durfte man selbst anbauen. Meine Großmutter und ich hatten trotzdem ab und zu für Gemüsegerichte der Familie gesorgt, was freilich stets ein Geheimnis zwischen uns beiden geblieben ist.
Während ich noch immer in Erinnerungen und Gedanken verloren vor mich hin träumte, nahm ich plötzlich wahr, dass mein Vater unterdessen sich erhoben hatte und gerade dabei war, meiner Großmutter beim Aufstehen behilflich zu sein. Erleichtert dachte ich, na endlich! Es wird auch höchste Zeit, dass wir nach Hause gehen. Doch statt zur Bushaltestelle lenkte mein Vater seine Schritte in die umgekehrte Richtung, tatsächlich wieder ins Bahnhofsgebäude zurück. Mir gab er nur die unbegreifliche Erklärung, dass Großmutter doch nicht mehr zu uns nach Hause mitkommen könne, sondern spontan wieder zurückfahren müsste. Ich konnte mich nur sehr wundern und fragte mich nach dem Warum. Sie hatte uns doch besuchen wollen und manche Beschwernisse, die mit einer solchen Reise verbunden waren, tapfer auf sich genommen. Und jetzt sollte alles vergebliche Mühe gewesen sein! Die Fahrt zu uns war für sie, eine immerhin ältere Dame, keineswegs ganz einfach, ich hatte selber erlebt, wie umständlich das war und mit welchen Hindernissen verbunden, von ihrem Dorf bis nach Beijing zu kommen. Man musste sich erst von einem Kutscher bis zur fünf Kilometer entfernten Busstation bringen lassen, dann mit einer Leiter in einen offenen Lastkraftwagen klettern, denn dieser war nichts anderes als der damalige Fernbus, und dann noch damit zwei Stunden über eine holprige Landstraße bis zum Bahnhof fahren. Dort hatte man auch nicht sofort eine Zugverbindung, sondern musste sich bis zum andern Tag gedulden. Das bedeutete also in einem kleinen Gasthaus am Bahnhof zu übernachten. Der einzige Zug in die Hauptstadt ging eben erst am nächsten Morgen. Dann wieder acht Stunden Zugfahrt, wirklich eine zeitaufwendige Tour voller Umständlichkeit und Beschwerden!
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