Warum also jetzt diese übereilte Rückreise, ohne überhaupt wenigstens meine Mutter und meinen Bruder gesehen zu haben? Mein Vater erklärte mir schlicht und resolut, die Oma hätte sich anders entschieden. Meine Oma versuchte mich zu trösten mit der Versicherung, sie werde uns ein anderes Mal besuchen und bald wiederkommen. Und damit überreichte sie mir dann ein großes mit einem Tuch eingeschlagenes Gepäckstück, das alle möglichen Leckerbissen vom Land enthielt: Datteln, Süßkartoffeln und selbstgemachte Kekse. Kaum blieb Zeit für weitere Abschiedsworte, da fuhr auch schon der Zug an unserem Bahnsteig ein. Mein Vater befahl mir noch rasch, auf dem Bahnsteig auf ihn zu warten. Dann begleitete er meine Oma in einen Waggon. Ich sehe sie noch heute mit ihren kleinen gebundenen Füßen schwankend mühsam in den Zug einsteigen, meinen Vater, wie er ihr einen Platz gesucht und ihr Gepäck im Regal verstaut hat. Wahrscheinlich hat er auch noch die Sitznachbarn gebeten, doch vielleicht ein Auge auf die Großmutter zu haben und wenn nötig, ihr zur Hand zu gehen. Dann war das Abfahrtssignal ertönt und mein Vater hatte eiligst den Wagen wieder verlassen. Die Lokomotive begann viel Dampf auszustoßen und drei Mal zu pfeifen, und der Zug rollte allmählich davon. Die Großmutter hatte uns, den auf dem Bahnsteig Zurückgebliebenen, zum Abschied aus dem Fenster zugewinkt. Wir konnten es ihrem Gesichtsausdruck ansehen, dass sie offensichtlich sehr traurig und besorgt sein musste.
Eine Woche nach dieser ungewöhnlichen Abschiedsszene haben wir den dramatischen Auftakt der Kulturrevolution erleben müssen. Sehr bald erfolgte die große Kampagne der Verfolgung und Diffamierung aller Funktionäre, wovon natürlich auch unsere Schule betroffen war. Alle Schulleiter und Lehrkräfte wurden nach und nach aus ihren Ämtern gejagt, zumeist aus fadenscheinigen Gründen. Die Lage war undurchschaubar und chaotisch geworden. Von der fragwürdigen Kritik und jetzt systematisch betriebenen Diffamierung betroffen war auch und vielleicht sogar in vorderster Front mein Vater, dessen Position allein schon die fanatischen Mao-Anhänger provozieren konnte.
Jetzt begann ich langsam zu verstehen, warum mein Vater sich am Bahnhof mit der Großmutter in meiner Gegenwart so rätselhaft verhalten hatte. Er hatte den bevorstehenden Ausbruch der Kulturrevolution bestimmt geahnt und vorausgesehen! Jetzt wurde mir auch langsam klar, warum offenbar mein Vater am Bahnhof die Initiative ergriffen und in dem heimlichen Gespräch mit meiner Großmutter darauf hingewirkt hatte, sie noch an demselben Tag ihrer Ankunft zur unverzüglichen Rückkehr zu bewegen. Zu der Zeit, während meine Großmutter ihren Besuch geplant und vorbereitet hatte, hatte es noch keine Vorzeichen der dramatischen Ereignisse gegeben, die dann bald eintreten sollten. Die Situation hatte sich erst später zugespitzt, war vor kurzem noch keineswegs bedrohlich gewesen. Erst als meine Oma ihre Reise angetreten hatte, war die politische Situation schlagartig kritisch geworden. Mein Vater hatte wahrscheinlich am Tag der Anreise der Großmutter schon zumindest geahnt, dass auch er nicht verschont werden würde. Im Spiegel meiner späteren Erinnerung habe ich die erlebte Bahnhofsszene anders beurteilen gelernt. Die für mich damals rätselhafte und unverständliche Verabschiedung der gerade erst Angekommenen schien nun eine besonnene und vernünftige Entscheidung. Meiner Großmutter, der, wäre sie bei uns in Beijing geblieben, wahrscheinlich auch große Probleme wegen ihres früheren sozialen Status als Grundbesitzerin entstanden wären, sind auf diese Weise bestimmt viele Unannehmlichkeiten erspart geblieben. Auf jeden Fall hat sie unter diesen Umständen nicht Zeuge der schrecklichen Schikanen und entwürdigenden Demütigungen werden müssen, die bald auf meinen Vater zugekommen sind. Die dunklen Rätsel und Geheimnisse der Familienszene am Bahnhof waren wenigstens für mich also noch in ein neues Licht gerückt, wenn auch in ein Licht, das viele dunkle Schatten vorauswarf.
Im Sommer 1966 verkündete unser Grundschuldirektor auf einer Schulversammlung mit ernster Miene ein brandneues Ereignis: Eine von Mao eigenhändig verfasste Wandzeitung mit dem Titel »Bombardiert die Hauptquartiere« sei veröffentlicht worden. Der Große Vorsitzende habe damit in poetischen Worten an alle appelliert: »Man sollte es endlich wagen, den Kaiser von seinem Ross herunterzuziehen!« Mit diesem Aufruf und mit dem »Kaiser«, so erklärte er uns, habe Mao alle Funktionäre gemeint, alle, die den kapitalistischen Weg eingeschlagen hatten, wie man gemeinhin damals sagte. Diese müsse man jetzt öffentlich kritisieren und entschieden verfolgen. Eingeschlossen in den Kreis dieser Feinde wären alle Revisionisten, Antirevolutionäre und alle Vertreter der Bourgeoisie. Alle, die zur ausbeutenden Klasse gehörten, die müssten jetzt von ihrem hohen Ross geholt und zurückgeschlagen werden.
Unser Grundschulleiter erklärte uns dann die größeren Zusammenhänge dieses neuen Aufrufs. Der Vorsitzende Mao hätte von »vier großen Ideen« gesprochen: vom »Großen Krähen« (gemeint sind agressionsfreudige Reden) von der »Großen Gedankenbefreiung«, der »Großen Diskussion« und der »Großen Wandzeitung«. Und er hätte befohlen, man sollte ein mutiger Vorkämpfer sein, man dürfe künftig »keine Scheu mehr vor dem Himmel, vor der Erde, vor Geistern und vor Teufeln haben.«
Unser Grundschulleiter nahm des weiteren Maos Worte zum Anlass, uns Schüler alle zur tatkräftigen Mitwirkung in diesem jetzt gebotenen Kampf aufzurufen. Wir sollten uns doch die Studenten aus der Pekinger Universität zum Vorbild nehmen. Wie Paris die Welt der Mode anführt, so bildet die Beijing Universität bei jeder politischen Bewegung die Lokomotive. Einige unserer Lehrer waren schon zur Beijing Universität wie nach Mekka oder nach Jerusalem gepilgert und hatten uns enthusiastisch über die dortigen Aktivitäten berichtet. Die Studenten hätten bereits voller Begeisterung damit begonnen, die Ideen des Großen Vorsitzenden Mao in die Praxis umzusetzen und damit eindrucksvoll gezeigt, wie man die rote Fahne Maos hissen muss. Auch wir hätten uns nun um die Interessen der Partei zu kümmern und uns um den Vorsitzenden Mao zu scharen, hätten alle Subversionspläne der Revisionisten, sobald wir davon hörten, aufzudecken und öffentlich bekannt zu machen.
Wir konnten damals Sinn und Bedeutung dieses Aufrufs wohl noch nicht so richtig begreifen, aber wir hatten doch eine Ahnung davon, dass es sich hier um eine sehr wichtige Angelegenheit handeln musste. Unser Grundschulleiter hatte eine gewisse Ratlosigkeit in unseren Gesichtern erkannt und deshalb versucht, uns klar zu machen, was das für uns Schüler konkret zu bedeuten hätte. Er forderte uns auf, dem Aufruf Maos zur Herstellung einer Wandzeitung, die inzwischen schon wie ein politisches Manifest angesehen wurde, Folge zu leisten und jetzt auch »in die Schlacht zu ziehen« und alle Feinde, alle konterrevolutionär gesinnten »Revisionisten«, die man inzwischen meistens metaphorisch »Rinderdämonen« und »Schlangengeister« nannte, tatkräftig »niederzuschlagen«. Erst allmählich dämmerte es mir, was vielleicht damit gemeint sein könnte und was das heißen würde. Was man unter den Konterrevolutionären und Ausbeutenden zu verstehen hätte, das war nicht so schwer zu begreifen. Aber was sollten wir uns unter den »Revisionisten« vorstellen? Wer zählte denn zu dieser Personengruppe? Unser Grundschulleiter versuchte uns auf die Sprünge zu helfen. Darunter wären alle Funktionäre zu verstehen, die sich von den ursprünglichen Zielen von Karl Marx, Friedrich Engels, von Lenin und Stalin abgewandt hätten. Aber nicht nur von ihnen. Hier wären auch diejenigen Funktionäre gemeint, die sich über die Masse der Bevölkerung erhoben hätten. Aber selbst diese Erklärungen konnten uns anfänglich wenig helfen, eine deutlichere Vorstellung, ein klareres Bild von der vielgeschmähten Gruppe der Revisionisten zu gewinnen. Ich glaubte insgeheim, vielleicht würde unser Grundschulleiter ja selber nicht so genau wissen, wer und was hier öffentlich zu kritisieren wäre. Was man unter »Schlangengeistern« und »Rinderdämonen« zu verstehen hatte, das immerhin wusste ich. Waren hiermit doch nach chinesischem Volksglauben böse Geister bezeichnet, die eine menschliche Gestalt annehmen konnten und in aller Regel Unglück brachten. Wir alle waren also jetzt aufgefordert, diese bösen Geister in unseren Mitmenschen zu erkennen und sie zu enttarnen. Auch wir Schüler sollten von allen, die gegen die Diktatur des Proletariats, die gegen Mao und gegen die Partei aufgestanden waren, deutlich Abstand nehmen und sollten solche Mitmenschen als feindliche »Dämonen« entlarven und öffentlich kritisieren.
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