Zwei lange Augenblicke verstrichen, bis Gerold verstand: Die Aussicht, von den Nonnen getragen zu werden, rechtfertigte in den Augen des Mönches einen lebensbedrohenden Sturz. Gerold lachte so heftig, dass die Rippen in seiner rechten Seite schmerzten.
Jedes Mal in den nächsten Tagen, wenn die Tür sich öffnete, hoffte Gerold, Michal träte herein, doch es kamen nur Walburga und ältere Nonnen, die sich um die Kinder kümmerten und ihn nicht zu sehen schienen. Sie wurden begleitet von Martin, der ihm die Mahlzeiten ans Bett stellte und außer ein paar Begrüßungsworten keine Silbe herausbrachte, auch nicht, als er ihn nach seiner Franziska und seinem Dolch fragte, die er wahrscheinlich beim Sturz vom Baum verloren hatte. Nach zehn Tagen trat Gerold zum ersten Mal vorsichtig mit dem rechten Fuß auf, nach weiteren sechs Tagen machte er die ersten Schritte ohne Krücken. Ihn drängte es aus dem Krankenlager, denn in den letzten Tagen waren zwei der Kinder gestorben. Seitdem hatte er die anderen Kinder nicht mehr durch Heldengeschichten von ihrem Leid ablenken können. Das Herz wurde ihm schwer mit jeder Stunde, die er diese kleinen Geschöpfe sah, denen selbst Walburga nicht helfen konnte. Er streifte den Siegelring ab, um nicht als Grafensohn erkannt zu werden, und verließ humpelnd das Krankenlager. Er wollte endlich wieder laufen können, um Flocke im Wald zu besuchen − und Michal wiederzusehen, irgendwie. Er wusste um die Gefahr, dass Wulfhardt von seinem Aufenthalt in Heidenheim Wind bekommen könnte, allerdings vertraute er auf die Mönchskutte als Verkleidung. Auch Heido, der Dorfvorsteher, der früher einige Male am Grafenhof gespeist hatte, erkannte ihn scheinbar nicht. So weit war es gekommen, merkte Gerold: Er musste sich vor einem Mann verstellen, der noch vor einem halben Jahr das Knie vor ihm gebeugt hatte.
Von jenem Heido hatte Wynnebald einst den Ort Heidenheim gekauft. Einen Großteil des Landes hatte Wynnebald ihm sogleich wieder zur Pacht überlassen, den anderen Teil hatte er dem Kloster zugeschlagen. Seitdem war Heidenheim zweigeteilt: Hier der Klosterbereich samt zugehörenden Äckern und der Mühle, den jetzt Walburga führte, dort der Rest des Dorfes mit Heidos großem Meierhof, einigen kleinen Hofstätten und Handwerkern, dem weiterhin Heido vorstand. Dank der Einnahmen aus dem Verkauf an Wynnebald und des günstig gepachteten Landes war Heido weiterhin der wohlhabendste Mann im Dorf. Mit Frau und Kinderschar wohnte er im großen Wohnhaus des Meierhofs, als Einziger konnte er sich Pferde zum Eggen und Pflügen der Felder leisten. Doch auch die anderen Familien fanden ihr Auskommen: Das Hämmern des Schmieds klang aus einem Grubenhaus, das Dach mit frischem Stroh bedeckt, Rauch stieg von dort empor wie auch aus dem Backofen, das oberschlächtige Mühlrad plätscherte unablässig ins Wasser des Gießbachs, überall tobten Kinder. Besonders stolz waren die Dorfbewohner auf das Wohnhaus des Meierhofs und die Kirche, denn kaum jemand, der durch Heidenheim reiste, hatte jemals zwei Steingebäude in so enger Nachbarschaft gesehen, selbst den Grafenhof stellte Heidenheim damit in den Schatten. Trotzdem gehörte auch dieser Ort zu seiner Grafschaft. Bei diesem Gedanken fluchte Gerold leise, weil er nur als Mönch verkleidet durch den Ort streifen konnte, anstatt hoch zu Ross, wie es sich für einen Grafen geziemte.
Auf dem Platz zwischen den Steingebäuden wurde Markt abgehalten. Gerold schob Interesse an den Kleidern aus dem Genitium des Nonnenklosters vor, konnte der Marktfrau jedoch nichts über Michal entlocken. Stattdessen erfuhr er, dass die Marktfrau mit ihrer Arbeit für das Nonnenkloster mehr zu essen nach Hause brachte als ihr Mann.
Dieser Umstand kam Prior Goumerad zu Ohren, denn in seiner Predigt vier Tage später wetterte er, es sei gegen Gottes Ordnung, wenn, wie es hier in Heidenheim die Regel sei, Weiber mehr verdienten als Männer, schließlich habe Gott die Frau aus der Rippe des Mannes erschaffen, damit sie seine Gehilfin werde, nicht seine Herrin.
Bei dieser Messe lugte Gerold immer wieder zu Michal hinüber, darauf wartend, dass sie sich ihm zuwandte, aber sie blieb tief in das Gebet versunken. Als der Nonnenchor sang, hörte er ihre hohe Stimme heraus.
Vor der Kirche wartete er auf den Auszug der Nonnen, doch auch jetzt hob Michal nicht den Kopf. Ungläubig blickte Gerold ihr hinterher. Hatte er sie überhaupt nicht beeindruckt? Immer noch rätselnd, wandte sich Gerold zum Krankenlager. Da rief Walburga ihm zu: „Auf ein Wort, Gerold!“
Ihre Stimme hatte etwas Schneidendes, sodass Gerold versucht war, weiter Richtung Krankenlager zu humpeln. Aber er blieb stehen, wohl wissend, dass Walburga ihn einst vom Fieber geheilt hatte und somit als Einzige in Heidenheim seine edle Abstammung kannte. Aus den Amphoren, die jetzt an ihrem Gürtel hingen, hatte sie das Öl und die Kräuter hervorgeholt, die ihn geheilt hatten. Er folgte Walburga in den Schatten des Kirchenportals, wo er Michal nach dem Tribunal die Frage gestellt hatte, die immer noch unbeantwortet war. Er guckte an Walburga vorbei auf die halbkreisförmige Tür, die eingerahmt wurde von speziell für diesen Zweck gehauenen Steinen, die wiederum von einem Entlastungsstein gekrönt wurden.
„Warum habt Ihr beim Tribunal gelogen?“, fragte Walburga rundheraus, die Augenbrauen nach oben gezogen, sodass sie unter dem Schleier verschwanden, der wie ihr Umhang viel zu weit war. Alles an ihr schien klein und schwächlich: das Köpfchen, das sich nur schwer auf dem Hals halten konnte, der kleine Mund, die dünnen Lippen, die knochigen Finger. Dennoch gingen viele der Werke, die ihm in den letzten Tagen in Heidenheim begegnet waren, auf diese Frau zurück, die weder Krummstab noch Ring als Zeichen ihrer Äbtissinenwürde trug. Und dann sollte sie noch dieses Lichtwunder bewirkt haben, von dem man sich allerorts erzählte. Aber warum stellte sie ihn jetzt, nach zwanzig Tagen, noch wegen des Tribunals zur Rede?
„Äh, ich wollte …“ Gerold breitete die Arme aus. „Das war doch ungerecht! Ich meine, sie hat mir nur zu trinken gegeben und erzählt, wo ich mich befinde.“
„Dennoch hat sie damit gegen eine Regel verstoßen. Was jedoch verzeihlich ist, denn diese Regel war menschengemacht. Ihr jedoch habt gegen eine Regel Gottes verstoßen, der da sagt im achten Gebot: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“
Gerold versuchte, eine schuldbewusste Miene zu ziehen und überlegte, ob er Walburga nach Michal fragen könne.
Walburga bekreuzigte sich, als wollte sie Gott für Gerolds Sünde um Vergebung bitten.
Gerold kam zu dem Schluss, lieber eine geeignetere Situation für seine Frage nach Michal abzuwarten und sagte: „Ich werde Gott um Verzeihung bitten. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder, verehrte Walburga.“
„Da gibt es noch etwas, worüber wir reden müssen.“
Gerolds Schultern spannten sich an.
„Es geht um Wulfhardt, Euren Onkel. Er beansprucht das Amt des Grafen für sich, obwohl Ihr der Sohn des Grafen seid − und obwohl der Mord an Eurem Vater ungeklärt ist.“
Gerolds Hand griff unbewusst an den Gürtel, wo früher sein Schwert gehangen hatte. „Wulfhardt ist der Mörder!“
Sie nickte, als hätte sie keine andere Antwort erwartet. „Ich glaube Euch, doch könnt Ihr es beweisen?“
Gerold schüttelte den Kopf. „Lange grübelte ich darüber, doch gibt es außer mir keinen Zeugen − Wulfhardt und seine Reiter waren gründlich.“
„Dennoch: Nach dem Herkommen geht das Erbe auf den Sohn über, nicht auf den Bruder, also beansprucht Wulfhardt zu Unrecht die Macht über die Grafschaft. Dies kann nicht Gottes Wille sein, geht doch alle Macht auf Erden auf ihn zurück. Wir müssen Gottes Gerechtigkeit wiederherstellen.“
Bei dem Wort „wir“ spitzte Gerold die Ohren. Er kramte den Siegelring hervor. „Dies ist der Siegelring des Grafen, mein Vater trug ihn.“
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