Plötzlich fiel sein Blick auf etwas Schimmerndes. Er zügelte den Hengst. Der Wald endete hier auf dieser Anhöhe, von der aus er seinen Machtsitz erspähen konnte. Er stieg ab und beugte sich, die Hände auf die Knie gestützt, zu dem schimmernden Ding hinunter. Es war ein Dolch. Während er ihn aufhob, erkannte er Spuren im Boden, die zurück in den Wald führten. „Siehst du die Spuren?“, fragte er Hroutland.
„Ja, Herr. Sind schon etwas verwittert, wahrscheinlich ein, zwei Tage alt. Müssen mehrere gewesen sein, mindestens drei. Haben Holzschuhe getragen, ziemlich kleine, wahrscheinlich Frauen.“
Wulfhardt kratzte sich mit dem Dolch hinter der Ohrmuschel. Was machten Frauen so nah an seinem Machtsitz mit einem Dolch? „Wir folgen den Spuren“, entschied er und stieg auf, die Pfunde verfluchend, die er den ausgiebigen Gelagen der letzten Monate verdankte.
Mit jedem Schritt, den der Hengst durch den Wald trat, verfestigte sich ein Verdacht, und als er den Hengst zügelte, nickte er: Vor ihm, im vom Gießbach durchflossenen Tal, lag Heidenheim. Es wurde zum Gebet gerufen. Von Norden trotteten die Mönche vom Klosterhof aus Richtung Kirche, südlich der Kirche traten die verschleierten Jungfrauen aus dem Kloster, der Äbtissin folgend, aufgereiht wie Küken hinter der Henne. Wulfhardt bedeutete dem schmächtigsten Waffenknecht, seine Rüstung abzulegen und den Spuren nach Heidenheim zu folgen.
Als dieser zurückkehrte, meldete er: „Die Spuren führen zum Nonnenkloster, Herr.“
In Wulfhardt keimte der Wunsch auf, das Kloster niederzubrennen. Was suchten die Nonnen in der Nähe seines Machtsitzes? Warum hatten sie einen Dolch dabei? Am liebsten wäre er mit gezücktem Schwert in die Kirche gestürmt und hätte Walburga zur Rede gestellt. Doch Walburga stand nach dem Lichtwunder überall in hohem Ansehen, auch bei seinen Waffenknechten. Er kehrte um, darüber grübelnd, wie er Walburga zur Strecke bringen könnte.
Zurück am Grafenhof wartete sein Haushofmeister Drogo mit einer Nachricht: „Herr, der Sohn des Kochs ist am Fieber gestorben.“ Drogo verkündete dies im gleichen Tonfall, mit dem er seinem Herrn mitteilte, einem Dorf zwei Wagenladungen Weizen weniger als im letzten Jahr abgepresst zu haben. Wulfhardt schätzte es, dass sein Haushofmeister sich nicht von Gefühlsduselei leiten ließ. Wer sich von Gefühlen leiten ließ, der machte Fehler − das wusste er nur zu gut seit der Schmach mit Hildegard. Deshalb war er überzeugt, dass Drogo ein guter Verwalter war. Trotzdem musste er ihn regelmäßig kontrollieren, denn er vertraute grundsätzlich niemandem. Denn wie jeder Mensch, so hatte auch Drogo Schwächen. In seinem Fall war dies sein zwölfjähriger Sohn − der einzige Mensch, der ihm etwas zu bedeuten schien. Er stand auch jetzt an seiner Seite und blickte ihn aus eng beieinanderliegenden Augen an. Wie bei seinem Vater schienen die Augen auf die Nasenspitze zu schielen.
„Lass uns das im Großen Saal bereden“, brummte Wulfhardt. Er stapfte voran. Nach dem Brand hatte er ihn, getreu dem Vorbild des Vorgängerbaus, neu errichten lassen: Der an einer Querstange hängende Kessel über der Feuerstelle wurde durch die Dachöffnung hindurch von der Sonne beschienen. Die Plätze am Tisch, zu denen sich Wulfhardt, Drogo und dessen Sohn begaben, mussten jedoch von Öllampen erhellt werden. Wulfhardt setzte sich an die Stirnseite des Tisches. „Dem Müller, der mich bestohlen hat, lässt du die rechte Hand abhacken“, beschied er. „Diese Hand wird mich nicht mehr bestehlen.“
„Ja, Herr.“ Drogo räusperte sich. „Heute Morgen kam Walburga hierher.“
Wulfhardt fuhr hoch. „Was?“
„Sie wollte die kranken Kinder sehen. Hat behauptet, dass sie ihnen helfen will. Ich habe sie fortgeschickt.“
„Gut gemacht“, murmelte Wulfhardt, während er sich wieder setzte und dabei die Hände zu Fäusten ballte, um das leichte Zittern in seinen Fingern zu verbergen.
Erst die Spuren im Wald, die zum Nonnenkloster führten, jetzt kam Walburga sogar am hellichten Tag zu seinem Machtsitz spaziert. Was führte sie immerzu hierher? Er spürte ein Drücken in den Eingeweiden. Walburga machte ihm Angst. Niemals hätte er es zugegeben, aber es war so. Jeder hatte beim Lichtwunder gesehen, dass sie in der Gunst des mächtigen Christengottes stand. Diese Frau hatte man besser nicht zur Feindin. Und sie hatte allen Grund, ihn zu verfluchen.
Wulfhardt versuchte, mit ruhiger Hand Wein in den Trinkpokal zu schenken. Er setzte ihn an und ließ den Wein langsam in seine Kehle laufen. Als er ihn absetzte, fühlte er sich besser. „Und die anderen Kinder sind noch krank?“
„Ja, Herr.“
„Hm“, brummte Wulfhardt. Seit einigen Wochen griff die Krankheit um sich. Kinder bekamen Bauchfluss mit Blut und Schleim, gefolgt von Fieber und Bauchschmerzen. Bisher hatte er sich darüber nicht den Kopf zerbrochen. Kinder wurden nun mal oft krank und starben. Doch wenn nun ein Kind an dieser Krankheit gestorben war, konnten bald weitere Kinder folgen. Und dies, gewahrte er jetzt, könnte sich zu einem Problem für ihn auswachsen: Die Menschen würden munkeln, dass es so etwas früher in der Grafschaft nicht gegeben habe, geschweige denn am Machtsitz des Grafen. Er sog die Luft durch die Nasenlöcher ein und vernahm den Geruch der Urinbottiche, die hinter dem Großen Saal standen, gut gefüllt von den Zechern der letzten Tage. Er setzte den Trinkpokal an die Lippen und stellte ihn erst nach drei tiefen Zügen wieder ab. Was ist jetzt anders als früher am Grafenhof?, überlegte er. Ihm fiel nichts ein. Nein, die Krankheit musste durch Mächte verbreitet worden sein, die er nicht bemerkte. Mächte, über die Walburga verfügte.
Wulfhardt kramte den Dolch hervor, den er im Wald gefunden hatte, und bohrte die Spitze der Klinge vor sich in den Tisch. Seit er das Licht im Nonnenkloster gesehen hatte, wusste er um die Macht des Christengottes. Seitdem hatte er vieles getan, um die Gunst dieses Gottes zu erlangen: Zweimal am Tag zelebrierte er die Heilige Messe, für den Altar in der Kapelle des Grafenhofs hatte er einen goldenen Kelch aus einem Römergrab gestiftet. Er zog den Dolch aus dem Tisch, hob den Arm über die Schulter und warf den Dolch hinunter. Er drehte sich einmal in der Luft, dann schlug die Spitze im Tisch ein. Zürnte ihm der Christengott immer noch? Oder hatte Walburga die Krankheit heraufbeschworen mit ihren Zauberkräften? Er legte die Hand um den Dolchgriff, als er die Gravur auf der Klinge bemerkte: ein Eber.
Das Zeichen der Grafenfamilie!
Wulfhardts Hand zuckte vom Dolch weg, als hätte er an glühendes Eisen gefasst. Ein Schrei entfuhr ihm, er sprang auf.
Gerold!
Der Dolch konnte nur von Gerold sein!
„Herr?“ Drogos Stimme schien aus weiter Ferne an seine Ohren zu dringen. „Geht es Euch nicht gut?“
„Nein, nein“, stammelte Wulfhardt, die Hände um das Kreuz seiner Halskette gekrallt, als wollte er es mit bloßen Händen zermalmen. Er sank auf den Stuhl und blickte über den Dolch hinweg.
Er wusste nicht, wie lange er da gesessen hatte, bis Drogos Räuspern ihn aus der Erstarrung riss.
Wulfhardt fragte: „Starb der Sohn des Kochs nach ihrem Besuch?“
„Ja, Herr.“
„Dachte ich mir.“ Er nickte, seine eigene Stimme erschien ihm fremd. „Es fügt sich alles zusammen. Gerold, er steckt mit den Nonnen unter einer Decke. Sie waren es, die ihn aus dem Verlies befreiten. Und Walburga hat im Namen des Christengottes die Krankheit heraufbeschworen. Sie will mir schaden, um Gerold auf den Grafenthron zu helfen. Deshalb kommt sie an meinen Machtsitz: So wirkt ihr verderblicher Zauber am besten. Darum ist kurz nach ihrem Besuch der Sohn des Kochs gestorben.“
Eine Hitzewelle stieg ihm von den Gedärmen bis zur Kehle. Gerold! Dieser Angeber! Schon als Kind hatte er in allem der Beste sein wollen, wie sein Vater. Ausgerechnet an der Seite der wundertätigen Walburga!
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