»Hat sie dich erkannt?«, fragte Joseph leise.
»Nein.«
»Aber du hast sie doch so lange gestillt.«
»Das ist Jahre her. Ein Kind vergisst das.«
Als sie weitergingen, gab Lena Magda eine Hand und reichte die andere Joseph hin: »Holla hupp?«
»Du wirst lästig«, meinte der Weinbauer, aber Joseph ergriff die Hand seiner Tochter.
Sie nahmen Anlauf. »Eins, zwei, drei«, und sie schleuderten Lena weit hoch, »holla hupp.«
Das Kind quietschte vergnügt. »Noch mal.«
»Eins, zwei, drei, holla hupp.«
»Noch mal.«
»Eins, zwei, drei, holla hupp.«
Lenas Lachen schallte durch das weite Tal. Aber Magda drehte plötzlich ihr Gesicht weg.
Die DDR-Bürger werden mitwählen, hatte Joseph schon vor einem Jahr prophezeit. Sie taten es, und Haberecht erhielt für seine Strategie eine schallende Ohrfeige. Schon bei der ersten Wahlprognose lag die 5%-Hürde unerreichbar fern. Aber unbeirrt trat er nach der ersten Hochrechnung vor seine Parteifreunde und verteidigte diese Strategie, sprach von einer Wahlschlappe, die dem Zeitgeist geschuldet und zu überwinden wäre. Doch es klatschten nur wenige. Die Mehrheit der Zuhörer gehörte zu Adams Anhängern, und die buhten Haberecht so aus, dass es dem die Sprache verschlug und er ratlos und schweigend am Mikrofon stehen blieb.
Und plötzlich war aus dem Hintergrund ein leiser Ruf zu hören: »Joseph, Joseph, Joseph!«
Alle blickten sich um.
»Joseph, Joseph, Joseph!«, riefen nun schon mehrere und schließlich fast alle.
Und der ließ seine Freunde noch ein bisschen zappeln, betrat dann von hinten die Bühne und ging schnurstracks zum Mikrofon. Die Masse jubelte auf. Haberecht blickte ihn nur kurz an, senkte sein Haupt und schlich sich davon. Seine Anhänger folgten ihm in der gleichen Körperhaltung.
Joseph stand nun alleine auf der Bühne und genoss den Beifall. Erst als der ein bisschen nachließ, senkte er seine Hände beschwichtigend und stellte sich das Mikrofon ein. Dann blickte er in den Saal, der etwas leerer geworden war und lächelte breit. Ohne eine Erklärung zu benötigten, lachten die Zuhörer auf und klatschten wieder.
»Liebe Freunde, diese Wahlschlappe wirft uns nicht um, sondern sie macht uns stark. Was wir soeben erlebt haben, bedeutet eine Zäsur in der Entwicklung unserer Partei. Eine Gruppe spaltet sich ab, eine kleine Randgruppe, der wir nicht nachtrauern müssen.«
Gelächter und zustimmender Applaus erklangen. Obwohl er schon in Wien gelernt hatte, dass die Massen Ironie nicht mögen und ein seriöser Politiker lieber darauf verzichten sollte, fühlte sich Joseph zu einer kurzen Bemerkung angestachelt. »Ich will jetzt kein Wortspiel mit einem Namen machen.«
Wieder unterbrach ihn Gelächter.
»Gut, das ist ja sowieso vorbei. Wir stehen heute nicht am Ende, sondern vor einem neuen Anfang. Wir befreien uns von dem ideologischen Müll, ohne dabei unsere Visionen aus den Augen zu verlieren. Wir nennen uns ›Die Anderen‹. Aber was bedeutet denn dieser Name? Wollen wir nur anders sein als die Altparteien? Würde uns das genügen? Würde mir das genügen? Natürlich nicht! Das Land muss anders werden. Wir wollen unser Land verändern, das ist unsere historische Aufgabe, das ist unsere Vision.«
Zustimmender Beifall brandete auf.
»Und dieser Aufgabe stellen wir uns jetzt. Wir verlassen die Nische, in die uns Ideologen getrieben haben. Wir stellen uns neu auf und machen uns regierungsfähig.«
Ein ungläubiges Raunen ging durch den Saal. Dieses Wort hatte noch kein Politiker der Partei in den Mund genommen. Und ausgerechnet nach dieser schweren Niederlage, die sie alle in die außerparlamentarische Opposition trieb, wagte Joseph das.
»Ja, das sage ich ganz bewusst, und ich wiederhole es: Wir müssen regierungsfähig werden. Unser Ziel kann nicht nur sein, bei der nächsten Wahl wieder ins Parlament einzuziehen, sondern wir müssen so viele Stimmen erhalten, dass wir als Koalitionspartner an die Macht kommen.«
Auch das Wort Macht hatte bisher nur Einer ausgesprochen – Joseph selbst auf dem Gründungsparteitag, aber daran erinnerten sich nur noch wenige. Vielen Zuhörern blieb vor Staunen der Mund offen stehen. Aber sekundenschnell machte sie Josephs Ziel zu ihrem eigenen und tobten vor Begeisterung. Adam redete noch weiter, aber viel mehr hätte er nicht sagen müssen.
Joseph Adam hatte seine Bude in Bonn aufgegeben und wohnte wieder mit Magda zusammen in Frankfurt. Zum Neuaufbau der Partei reiste er kreuz und quer durch das Land.
Noch nie hatte sich Magda in seine Terminplanung eingemischt, aber plötzlich sagte sie: »Wann musst du nach München? Am 15.? Das geht nicht.«
»Was ist denn jetzt los?«
Sie holte einen Monatskalender aus ihrem Nachttisch. Ein Tag am Monatsanfang und einer am Ende war rot gekennzeichnet, einer in der Mitte dunkelgrün und jeweils zwei Tage davor und danach hellgrün.
»Was ist denn das?«
»Musst du doch erkennen.«
»Nein, keine Ahnung.«
»Das ist mein Zyklus. Am dunkelgrünen Tag, also an dem Tag, an dem du verreisen willst, habe ich den Eisprung. Die anderen vier Tage sind auch noch fruchtbar.«
»Du willst?«
»Ja, ich will.«
»Schon seitdem wir Lena getroffen haben, nehme ich an.«
»Ich kann dir auf die Sekunde genau sagen seit wann. Als wir mit ihr holla hupp gespielt haben.«
»Ach so. Und ich habe mich in der letzten Zeit gewundert, warum du so oft wolltest. Also bist du nicht sexsüchtig geworden.«
Sie lachte auf: »Aber es hat bisher nichts gebracht. Also müssen wir uns jetzt ganz genau an meine fruchtbaren Tage halten.«
»Aber die Reise am 15. muss ich noch machen. Die kann ich nicht mehr absagen.«
Magda atmete tief ein und lächelte. Und weil sie ihm das nicht erklären wollte und musste, sagte sie schnell: »Gut, wenn es sein muss, aber danach musst du deinen Terminplan mit mir abstimmen.«
»Wie du sagst, wenn es sein muss.«
Joseph lachte amüsiert. Noch! Er war ja nun fast vierzig und hielt es schon aus, mal einen ganzen Tag lang nicht an Sex zu denken. Andererseits glaubte er aber noch, allzeit bereit zu sein. Doch Sex nach Plan, sozusagen mit der Stoppuhr in der Hand, gefiel ihm nicht lange. Sex nicht aus Liebe, nicht zum beiderseitigen Vergnügen, sondern als Pflicht mit einem konkreten Ziel, befriedigte ihn nicht so wie vorher.
Die Lehre seiner ersten, reifen Geliebten, nicht nur an sich selbst zu denken, hatten sie immer beide beherzigt. Aber als es nach vielen Versuchen nicht klappte, einfach nicht klappen wollte, vielleicht nie mehr klappen würde, dachte Magda nicht mehr an ihn, auch nicht mehr an sich selbst. Nach Monaten ging es nicht mehr nur um ihre fruchtbaren Tage, nun musste es an jedem Tag sein. Kündigte er eine Dienstreise außerhalb ihrer Periode an, kamen ihr sofort die Tränen: »Du denkst ja nur noch an deine Karriere, ich bin dir doch scheißegal.«
»Bitte Magda, jetzt bist du aber ungerecht.«
Sie schluchzte auf: »D...d... du interessierst d...d...dich nicht mehr für m...m...mich.«
Sie warf sich auf die Couch. Ihr Oberkörper zuckte. Sprachlos stand er wie erstarrt neben ihr. Dann setzte er sich zu ihr und versuchte, sie zart zu streicheln. Sie schlug seine Hand weg: »B...b...bleibst d...d...du?«
»Bitte, Magda, ich muss doch meine Arbeit machen.«
»D...d...dann liebst d...d...du m...m...mich nicht mehr.«
Völlig ratlos, wie er sie beruhigen sollte, versucht er es anders: »Jetzt ist aber Schluss, Magda so können wir doch nicht miteinander umgehen.«
Sie sprang auf und stürzte hinaus.
Und dann kamen die mitleidigen, oft spöttischen Blicke ihrer Kolleginnen, Bekannten und Freundinnen. Joseph fragte einen Freund direkt: »Spricht Magda denn mit jeder darüber?«
»Mit jeder! Sie kennt nur noch dieses Thema. Du solltest, entschuldige, wenn ich das so unverblümt sage, dich mal untersuchen lassen.«
Читать дальше