Ich bin verblüfft, wie präzise die letzte Nachricht auf Thomas wirkt. Er stellt keine Fragen, zieht nichts in Zweifel. Am liebsten würde er sofort alles stehen und liegen lassen und nach Griechenland aufbrechen, um Roswitha zu suchen. Das Einzige, was ihn davon abhält, ist die Bank, die für die Regelung einiger finanzieller Fragen und die Ausstellung seiner Kreditkarte zehn Tage braucht. Doch dann packt er ein paar Klamotten in einen Rucksack und macht sich auf den Weg. Ruft nur noch „Ciao, Markus! Ich bring Roswitha zurück!“ und haut ab.
Ich weiß nicht einmal, ob er die Bahn nimmt oder ein Flugzeug. Interessiert mich auch nicht. Ich bin nur froh, einfach nur heilfroh.
Noch am selben Abend packe ich sämtliche Roswitha-Relikte zusammen, die gefälschten ebenso wie die echten, und schmeiße sie in die Mülltonne. Und dann öffne ich ein Flasche Wein, einen richtig schönen, teuren Roten, und besaufe mich. Und weil es so schön ist, mache ich noch eine Flasche auf und dann noch eine, und schließlich bin ich von dem schönen Rotwein richtig schön besoffen und ich rufe „Prost, Tommi! Prost, Roswitha! Alles Gute euch beiden und der Teufel soll euch holen!“ und ich werfe das halbvolle Glas an die Wand, so richtig schön nach russischer Art, und dann das nächste und zum Schluss sogar noch die Flasche, knalle sie gegen die Graffitis, und der schöne Rotwein rinnt an ihnen herunter und vermischt sich mit den Farben, und so werden sie erst richtig schön, finde ich, richtig schön durch meinen schönen Rotwein, diese Scheißgraffitis. Und dann schlafe ich ein, was soll ich sagen, das erste Mal seit langem schlafe ich richtig schön, schlafe tief und fest, ohne Schlaftablette, schlafe, wie ich früher geschlafen habe, ganz früher, nämlich wie damals, als mein Bruder noch überhaupt nicht auf der Welt war und die Welt deshalb noch ziemlich in Ordnung gewesen ist.
Ist man eigentlich ein Arschloch, wenn man seinen Bruder gleichzeitig liebt und zum Kotzen findet? Gut, dann war ich eben ein Arschloch und bin vermutlich noch immer eins. Jedenfalls genoss ich jeden Tag ohne Thomas. Beglückwünschte mich zu jeder Woche, jedem Monat, in welchem ich nichts von ihm erfuhr, von gelegentlichen, nichtssagenden Ansichtskarten einmal abgesehen. Und gratulierte mir schließlich zu jedem der über drei Jahre, wirklich zu jedem einzelnen dieser herrlichen, wunderbaren Jahre, in denen ich von ihm meine Ruhe hatte!
Manchmal vergaß ich ihn völlig, manchmal machte ich mir aber auch Sorgen um ihn. Fragte mich, ob es richtig gewesen war, ihn allein auf eine falsche Fährte zu setzen und seinem Schicksal zu überlassen. Doch erst viel später, als er mir von seiner langen Suche nach Roswitha erzählte, erkannte ich, dass ich allen Grund zur Sorge hatte. Nicht wegen der ein, zwei unangenehmen Dinge, die Thomas zugestoßen waren. Was mir Sorgen bereitete, oder vielmehr, was mich erschreckte, war diese Mischung aus Gutgläubigkeit und Starrsinn, mit der er sein Ziel verfolgt hatte. Es wurde mir klar, dass Thomas ein Mensch ist, der sich durch nichts davon abbringen lässt, was er sich einmal in den Kopf gesetzt hat. Der eisern daran festhält, so falsch und verrückt und aussichtslos es auch sein mag. Mehr als bloß ein Phantast. Ein Irrer.
Eine andere Bezeichnung fällt mir nicht ein für einen, der drei Jahre lang einem Phantom nachrennt. Einen, der auf ein bloßes Gerücht hin auf jeder mit einer Fähre oder für eine Handvoll Münzen mit einem Fischerboot erreichbaren griechischen Insel nach einer rothaarigen Frau Ausschau hält, in die er sich als Fünfzehnjähriger unsterblich verliebt hat. Einen, der, einer plötzlichen Eingebung folgend, nach Athen fährt, sich im teuersten Hotel einquartiert und es für eine glänzende Idee hält, ein paar Farbspraydosen zu kaufen und dann an jeder zweiten Fassade den Namenszug Roswitha als bunt gestyltes Graffiti zu hinterlassen, sozusagen als Geheimbotschaft an die Gesuchte. Einen, der eines Tages von einer Tramperin angesprochen wird, einer jungen Deutschen, der aufgefallen ist, dass auf einmal in halb Athen ihr Name an den Wänden steht, und die wissen möchte, was das soll. Die er daraufhin zum Essen einlädt, ihr alles erzählt, überglücklich, dass sich endlich jemand für seine Geschichte interessiert, und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem er sich ohnehin ziemlich mies und allein und von seinem großen Bruder im Stich gelassen fühlt. Die das wahnsinnig toll findet, was er da tut, und die ganz spontan das Angebot macht, ihm zu helfen, diese andere Roswitha zu finden. Ein Angebot, das er sofort annimmt, ohne viel zu fragen. Weil er Witta, wie sie sich nennt, blind vertraut. Sie sogar ausgesprochen nett findet mit ihren Dreadlocks, diesen braunen Rastazöpfen mit den eingeflochtenen bunten Glasperlenketten, und mit ihrem hübschen Gesicht, vor allem aber wegen ihrer immer neuen Ideen, an welchen Orten sich Roswitha aufhalten könnte.
Und so reisen sie gemeinsam kreuz und quer durch Europa, immer mit dem Flugzeug, immer in den besten Hotels, Geld genug hat er ja. Ziehen durch die Straßen und sprühen Roswitha-Graffitis an die Hauswände. In Lissabon, in Madrid, in Amsterdam, in London, in Rom, auf Ibiza. Drei Jahre lang. Ohne Erfolg, ohne die geringste Spur von Roswitha. Drei Jahre, in denen er jedes Mal gebannt an Wittas Lippen hängt, wenn sie dafür eine Erklärung parat hat. Wenn sie von Verschwörungen und Geheimgesellschaften spricht, von im Verborgenen wirkenden Organisationen, von den wirklich Mächtigen, die alles auf der Welt in ihren Händen haben, Politik, Wirtschaft, Religion, Kunst, Waffen, Geld und vor allem natürlich Menschen, die sie nach Gutdünken entführen, verschwinden lassen, für ihre Zwecke benutzen und irgendwann wieder auftauchen lassen, manche nach ein paar Tagen, manche erst nach Monaten oder Jahren, manche nie. Geschichten, die ihm bestätigen, was er schon lang geahnt, gewusst hat. Drei Jahre, in denen sie ihn immer wieder aufbaut und tröstet und in die Arme nimmt, und manchmal kramt sie einen kleinen Lederbeutel mit Hasch aus ihrem Rucksack und dreht sich einen Joint und lässt auch ihn dran ziehen, und das findet er irgendwie aufregend und beruhigend zugleich, und dann schläft sie mit ihm. Und es ist einfach phantastisch, wirklich traumhaft ist es, wenn sie miteinander schlafen und er dabei Roswithas Namen seufzen, flüstern, schreien kann, und dafür liebt er Witta fast ein bisschen.
Mein Bruder, der Irre. Der Irre, der sich von einem raffinierten Späthippiegirl um den Finger wickeln lässt. Der nicht merkt, dass er der Lady bloß einen langen, komfortablen Europatrip bezahlt. Der ihr auch noch jedes Mal bereitwillig Geld gibt, wenn sie behauptet, sie könne an einen todsicheren Hinweis auf Roswithas Aufenthaltsort herankommen, aber für diese Information müsse sie leider ziemlich viel bezahlen, und der dann jede Geschichte glaubt, die sie natürlich prompt in die nächste teure Metropole oder auf die nächste angesagte Ferieninsel führt.
Der Irre, der nichts begreift. Auch zuletzt nicht, als im Flughafen von Palma plötzlich die Handschellen klicken, weil der Spürhund bei seinem Rucksack angeschlagen hat, in dem man, leider nicht gut genug in zwei leeren Spraydosen versteckt, Cannabis und einen Haufen hübscher, bunter Designerdrogen findet. Der keine Ahnung hat, wie das Zeug in seinen Rucksack gekommen ist. Der sich hilfesuchend nach Witta umblickt, aber die ist auf einmal nirgends zu sehen, in der ganzen Abfertigungshalle weit und breit keine fröhlichen Rastalöckchen. Ein Irrer, einfach ein Irrer, der selbstverständlich sofort davon überzeugt ist, Opfer einer Verschwörung zu sein, irgendwelcher Leute, die mit allen Mitteln verhindern wollen, dass Roswitha entdeckt wird, und die deshalb dafür sorgen, dass sich seine kleine Freundin buchstäblich in nichts auflöst, als hätte es sie nie gegeben, und dass er für zwei Monate in ein spanisches Gefängnis kommt und danach sofort nach Österreich abgeschoben wird.
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