Inzwischen haben sich die Sitten – und die Zahl und Verfügbarkeit toilettentauglicher Utensilien – entschieden geändert. So ließ 2014 in einer Folge der RTL-Kuppelshow Bauer sucht Frau der finanziell gut gestellte Günther die ihm zugesellte Claudia zum Nachweis ihrer Beziehungstauglichkeit quasi öffentlich seine Ferienwohnungen putzen. O-Ton: »Da werden wir mal schauen, ob sie dann eher sagt, ich mache das Staubwischen, oder ob sie auch richtig anpacken kann, ans Eingemachte geht und das Klo putzt.« Sie tat es, versenkte die Hände in der Schüssel und schrubbte nach Leibeskräften … Müßig zu erwähnen, dass spätestens seit der Messung von Sender-Einschaltquoten zahlreiche einst unumstößlich scheinende Tabus durch das gezielte Dauerfeuer von Tabubrüchen – sowohl in diversen Ekelshows wie auch Talkrunden, in denen der Intimität gleichsam der Garaus gemacht wird – ihren Geist aufgeben. Apropos Tabu:
Das wohl bekannteste Sinnbild sind die drei Affen (aus dem Schrein von Nikko), sprich: nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Tabus fallen nicht vom Himmel. Sie unterliegen ebenso dem historischen Wandel wie die Gesellschaften, die sie in ihren jeweiligen Kulturräumen hervorbringen und statuieren. Anders als gesetzlich verfügte Verbote und Erlasse beruhen sie auf einem stillschweigenden Übereinkommen der Mehrheitsgesellschaft, über ganz bestimmte Dinge weder nachzudenken, noch darüber zu sprechen oder sie gar zu praktizieren. Verstöße werden umgehend geahndet, im Härtefall durch den Ausschluss aus der Gemeinschaft. Individuen, die wissentlich oder unwissentlich gegen ein Tabu verstoßen, dürfen seit jeher nicht auf Toleranz hoffen.9 Wenn sich aber durchsetzungsmächtige Gruppen finden, die aus welchen politischen, kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Gründen auch immer ein Tabu zur Erosion bringen wollen – einfach und über Nacht abschaffen lässt es sich ja nicht –, dann sind dessen Tage schneller, als manchem lieb ist, gezählt.
2003 erschien die vortreffliche Doktorarbeit Toiletten und Urinale für Frauen und Männer von Bettina Möllring. In der Einleitung heißt es: »Die Gestaltung und Verwendung von Toiletten wird immer durch den gesellschaftlich geprägten Umgang mit dem individuellen Körper bestimmt. In den westlichen Kulturen gehören die Ausscheidungsprozesse noch zu den tabuisiertesten Handlungen – während das Tabu der Sexualität, die in vergleichbarer Weise intimisiert war, schon weitgehend aufgehoben ist. Mit der Tabuisierung der körperlichen Verrichtungen und der daraus resultierenden Intimität der Handlungen ist verbunden, dass bei Sanitärgegenständen ein vergleichsweise hohes Niveau an Gewohnheit und Vertrautheit während ihrer Benutzung besonders wichtige Faktoren sind.«10
Möllrings Befund einer »Tabuisierung der körperlichen Verrichtungen« liegt bereits mehr als ein Jahrzehnt zurück. Zwar kann ich mir gut vorstellen, dass es – mich inbegriffen – durchaus noch viele Zeitgenössinnen und Zeitgenossen gibt, die nicht ungeschützt über ihre individuellen Toilettengewohnheiten sprechen wollen. In den Medien aber kann von einer Tabuisierung längst keine Rede mehr sein. Was heute etwa in als Bestseller beworbenen Büchern demonstriert wird, lässt kaum einen Intimitätswinkel ausgespart. Ich öffne das Taschenbuch Mondscheintarif der 1968 geborenen Autorin Ildiko von Kürthy. Darin erzählt eine Fotografin, die 33-jährige Cora, ihre Geschichte – und bekennt nach einer Liebesenttäuschung: »Die Geburtstagsfeier habe ich heulend auf dem Klo verbracht.« Bei einem Filmempfang überkommt die Protagonistin ein Bedürfnis, und sie fragt ihren Begleiter: »Darf ich mal auf die Toilette gehen, oder komm ich dann ins Fernsehen?« Sie darf natürlich …
»Mir lief das Wasser im Mund zusammen, während ich mich an der überladenen Tafel vorbei in Richtung Damenklo vorarbeitete. Ich stieß die Schwingtür auf und fand mich in einem unglaublichen Pinkel-Palast wieder. Überall Spiegel, überall Marmor. Neben den Porzellanwaschbecken hing nicht etwa so ein gefährlicher Heißluftgebläseautomat, unter dem man sich die Haut verbrennt, trotzdem nicht trocknet, und der Nächste, dem man die Hand schüttelt, denkt, man hätte ihn mit Exkrementen besudelt. Hier lagen, ordentlich gestapelt, frische, kleine, weiße Frottee-Handtücher bereit. Und neben den weißen Handtuchstapeln saß eine hutzelige Klofrau auf einem Höckerchen und schaute mich erwartungsvoll an. So was hab ich ja nicht gerne. Ich kriege Probleme beim Wasserlassen, wenn ich den Eindruck habe, dass mir dabei jemand zuhört. Es wird mir ewig ein Rätsel bleiben, wie Männer es schaffen, nebeneinanderzustehen und zu pinkeln. Wie tun sie das? Reden sie dabei? Worüber? Was ist, wenn sich der Chef neben einem erleichtert? Urinstau? Gehaltsverhandlungen?«11
Und was passiert, wenn der Blick durch die sprichwörtliche Brille in die Weiten des historisch noch sehr jungen Internets geht – in den immer dominanteren virtuellen öffentlichen Raum? Das World Wide Web hat zu jeder erdenklichen Problematik entweder nur wenig oder unfasslich viel zu bieten. Als ich damit begann, die mit unseren natürlichen Körperausscheidungen verbundenen Begriffe in eine Suchmaschine einzugeben, stieß ich zum Beispiel unter dem Suchwort »Kacke« umgehend auf das Forum gofeminin und einen Beitrag vom Januar 2013: »Dass auch Mädchen/Frauen kacken gehen müssen, ist ja klar. Aber mir ist es trotzdem jedes Mal peinlich, wenn ich zu Hause kacken gehe und nach mir geht jemand ins Badezimmer. Ich wohne mit Mama, ihrem Freund und meinen beiden kleinen Schwestern in einer 4-Raum-Wohnung, und da wir ein sehr, sehr kleines Badezimmer haben ohne Fenster, habe ich natürlich keine Möglichkeit, den Geruch irgendwie wegzubekommen. Raumspray hilft nichts, man riecht’s ja trotzdem.«12
An Problemschilderungen, derben Sprüchen, Ratschlägen und Tipps fehlt es in Internetforen, Blogs und Websites gewiss nicht – und schon gar nicht zu den vermeintlich scham- und ekelbehafteten, zumindest intim aufgefassten Angelegenheiten rund um unsere natürlichen Bedürfnisse. Insbesondere in den Foren, in denen die Teilnehmer mit Tarnnamen operieren, wird wahrlich kein Blatt vor den Mund genommen. Zwar schieben viele User den Hinweis ein, ihre Notdurftbedürfnisse und die damit verbundenen Probleme und Fragen seien ihnen peinlich, und spielen damit auf ein Gefühl der Verlegenheit und des Unbehagens an; aber was sie dann und wie sie es berichten – Schwamm drüber. In den einschlägigen und frei zugänglichen Angeboten des weltweiten Webs wie auch in Talkshows ist der Begriff Tabu längst sprach-, ton- und bildgewaltig ausgehebelt, ja ad absurdum geführt. Was eine vielgenutzte Suchmaschine etwa nach der Eingabe des Stichworts Pisse gleich auf der ersten Seite zugänglich macht, spricht Tabuisierungswünschen nachgerade Hohn: Videofilmchen, die die Handlung als solche aus jeder Perspektive und in allen nur denkbaren Varianten darstellen und kommentieren sowie anklickbereite Piss-Pornos, die keine – zumal menschlich entwürdigende – Praktik auslassen.
Und wie steht es um die Aufrechterhaltung des Tabus in Fernsehserien und im Film? Bleibt die Toilette als Rückzugsort zur Verrichtung so privater wie intimer Angelegenheiten mehr oder weniger unangetastet oder zumindest frei von Menschen, die sich erleichtern müssen? Nun, in den Fernsehserien der Gegenwart sind Kloszenen nichts Ungewöhnliches mehr. In der 1993 gestarteten Serie Motzki rauscht gleich in der ersten Folge eine Wasserspülung, geht die Tür auf und tritt ein älterer Herr ins Treppenhaus, dem die Jogginghose noch in den Kniekehlen hängt und der eine Rolle Klopapier unterm Arm trägt. Motzki kommt gerade aus dem früher in den Mietskasernen üblichen Abort auf halber Treppe … In der hierzulande ab 1998 präsenten Anwaltsserie Ally McBeal werden die wichtigsten Belange stets in der Unisex-Toilette der Kanzlei diskutiert. Dass Tatort -Kommissare Urinale aufsuchen, dort ihre Penisse abschütteln und dabei Worte wechseln, nicht zu vergessen. Wie selbstverständlich der Besuch und die Thematisierung des Klosetts inzwischen in der Welt der Unterhaltungssendungen bzw. Sitcoms ist, ergibt sich etwa aus der Folge »Der König der Klos« der Serie Eine schrecklich nette Familie . Nachgerade offenherzig, wie folgender Auszug vermittelt:
Читать дальше