Er wappnete sich gegen die Erinnerung an diesen Abend, an das hilflose Bündel Mensch in seinen Armen und daran, wie ihre Lippen seine berührt hatten. Er hatte sich wirklich um sie gekümmert, das konnte man wohl sagen.
„Aber mach bitte nicht so viel Aufhebens um mich. Du bist doch nur ein paar Stunden weg – ich komme schon zurecht.“ Doch dann kam ihm ein verstörender Gedanke. Hatte sie etwa vor, länger fortzubleiben? Er versuchte, diesen Gedanken zu verdrängen, doch er kam immer wieder. In betont lockerem, fast beiläufigem Ton fragte er: „Es sei denn, du hast vor, über Nacht weg…“, woraufhin sie aber nur mit gerunzelter Stirn antwortete: „Natürlich nicht. Was ist denn bloß los mit dir?“
Daraufhin sah er sie nur an und fragte „Was mit mir los ist? Ich renne jedenfalls nicht wie ein aufgescheuchtes Huhn in der Gegend herum. Du bist nervös wie sonst was. Liegt das an Dylan Moore, oder was?“
Ihre Augen wurden jetzt ganz schmal, und sie sagte: „Nein, ich bin kein bisschen nervös, aber du bist ein richtiger Arsch, weißt du das? Vielleicht solltest du lieber wieder anfangen, mir aus dem Weg zu gehen.“
Riley stieß ein freudloses Lachen aus und erwiderte: „Wir leben im selben Haus, Paige, schon vergessen?“
„Na, du hast es ja trotzdem geschafft, die letzten zwölf Stunden kaum ein Wort mit mir zu reden.“
In dem Moment klingelte es an der Tür, aber sie starrten sich weiter unverwandt an, und offenbar war keiner von ihnen bereit, nachzugeben.
Als Paige schließlich an die Tür ging, hätte er ihr am liebsten die Patchworkdecke um die nackten Beine gewickelt. Stattdessen griff er nach seinen Krücken, um sich zu verziehen und es nicht noch schlimmer zu machen.
Er hievte sich also auf die Füße und drehte sich genau in dem Moment zur Eingangstür um, als Dylan seinen Blick mit männlicher Anerkennung über Paiges Körper gleiten ließ. Riley kämpfte heftig gegen den Drang an, dem Mann mit dem stumpfen Ende seiner Krücken seine verträumten braunen Augen auszupieksen.
„Wow“, sagte Dylan. „Toll siehst du aus. Umwerfend.“
Paiges Lächeln wurde breiter und strahlender, als hätte seine Bemerkung gerade ihre gesamte Woche gerettet. „Danke!“, antwortete sie.
Eigentlich hättest du derjenige sein sollen, der ihr das sagt, du Idiot, dachte er und hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt.
Nach einer Weile konnte Dylan sich schließlich lange genug von Paiges Anblick losreißen, um ihn zu bemerken. „Hey, Riley, alter Junge. Hab schon gehört, dass du wieder da bist. Schön, dich zu sehen, Mann.“
Riley jonglierte mit den Krücken, bis er beide in einer Hand hatte, und gab Dylan die andere Hand. Er versuchte, sie so fest zu drücken, wie er konnte, und entgegnete: „Ja, ich bin auch froh, wieder hier zu sein.“
Dylan zuckte ein wenig zusammen, als er seine Hand wieder losließ.
„Ich hole mir nur noch schnell einen Pullover“, sagte Paige. „Bin sofort wieder da.“ Und mit diesen Worten rannte sie die Treppe hinauf.
Dylan sah ihr nach, bis sie verschwunden war, und wandte sich dann mit einem sympathischen Lächeln wieder Riley zu. Der Typ sah offenbar absolut keine Konkurrenz in ihm. Aber wieso auch? Rileys Stimmung ging immer weiter in den Keller.
„Also …“, sagte Dylan nach einem langen unbehaglichen Schweigen. „Wie geht es denn so? Ich meine, mit der Genesung und dem ganzen Zeugs?“
„Super. Wohin führst du sie denn heute Abend aus?“
Einen Moment lang sah Dylan überrascht aus und schien nicht recht zu wissen, wie er darauf reagieren sollte.
Okay, vielleicht war Riley ja nicht besonders freundlich, aber es kostete ihn schon ungeheure Beherrschung, dem Typen nicht an die Gurgel zu gehen.
„Ach … ich habe gedacht, wir könnten mit der Fähre übersetzen nach Folly Soals und dort ins Seafood Shack gehen. Es ist ja perfektes Wetter für eine Bootsfahrt“, antwortete Dylan.
„Aber sie wird seekrank“, gab Riley zu bedenken.
Sein Strahlen ließ etwas nach, und er sagte. „Ach, dann kaufen wir unterwegs in der Apotheke noch etwas dagegen.“
„Und außerdem hat sie eine Allergie gegen Schellfisch.“ Wusste denn der Typ gar nichts über sie?
Ein Hauch von Röte überzog jetzt Dylans Gesicht. Er kniff die Augen ein bisschen zusammen und sagte schließlich: „Na ja … die Speisekarte dort ist ja ziemlich umfangreich. Ich bin sicher, sie wird etwas finden.“
„Ja, sicher.“ Riley ließ den Mann auch weiterhin keinen Moment aus den Augen und musterte ihn völlig ungeniert. Und es ist besser für dich, wenn du sie gut behandelst, Kumpel, sonst kannst du was erleben.
Dylan trat voller Unbehagen vom einen Bein aufs andere, und sein Gesicht war mittlerweile voller hektischer roter Flecken. „Hör mal, kann es sein, dass es irgendein Problem gibt?“
Riley stand stocksteif da, obwohl die Schmerzen in seinem Beinstumpf immer schlimmer wurden.
„Nee, nicht das ich wüsste.“
„Seltsam. Ich habe irgendwie das Gefühl.“
„Solange du sie gut behandelst, gibt es absolut kein Problem.“
„Da brauchst du dir wirklich keine Sorgen zu machen, Papa …“
„Okay“, rief Paige von der Treppe aus. „Ich bin fertig. Wir können jetzt los.“
Riley sah Dylan weiterhin fest in die Augen, damit er die Botschaft auf jeden Fall verstand, und als Paige näher kam, ging ihr Blick erst fragend zwischen den beiden hin und her, dann lachte sie nervös und fragte: „Alles in Ordnung?“
Riley warf Dylan einen letzten warnenden Blick zu und antwortete: „Ja, alles bestens.“
Auf dem Weg zur Tür drehte Paige sich noch einmal zu ihm um, und ihr fragender Blick sagte: Was war das denn gerade?
Er reagierte darauf aber nur mit einem etwas verkrampften Lächeln und sagte zum Abschied: „Dann habt mal einen schönen Abend, Kinder.“ Woraufhin ihm Paige noch einmal einen Blick zuwarf, den er aber demonstrativ ignorierte.
In dem Moment, als die Tür ins Schloss fiel, war Riley mit seinen Kräften am Ende, und in seinem Stumpf pochte ein dumpfer Schmerz. Ihm graute vor dem langen Abend, der vor ihm lag, als er sich aufs Sofa plumpsen ließ. Er schaltete den Fernseher ein und suchte einen Sportsender, aber fünf Minuten später war er mit seinen Gedanken schon wieder bei Paige. Er wünschte, er hätte nicht gefragt, wohin sie gingen, denn jetzt konnte er sich jeden Moment ihres Dates ganz genau vorstellen, bis hin zum Gang in die Apotheke.
Er erinnerte sich noch einmal an ihren Blick, als Dylan ihr das Kompliment gemacht hatte. Er wollte derjenige sein, der dafür sorgte, dass sie sich gut fühlte, lächelte und ihre Augen vor Vergnügen blitzten. Er wollte derjenige sein, der ihr im Restaurant die Tür aufhielt und ihr besonders leckere Gerichte vorschlug.
Jetzt wurde sein Inneres wieder von Dunkelheit geflutet, und vor Verzweiflung nahm er eines der Sofakissen und schleuderte es quer durch den Raum. Mit einem unbefriedigend leisen Geräusch traf es auf die Wand.
Reiß dich zusammen, Callahan. Du kannst sie nun mal nicht haben.
Er versetzte seinem nutzlosen Bein einen Schlag. Ist das deine Art von Unterhaltung, Gott? Einem Krüppel dabei zuzusehen, wie er die Frau, die er liebt, an einen anderen Mann verliert?
Und das schon zum zweiten Mal?
Er schloss die Augen und holte einmal tief Luft. Er würde schon damit fertigwerden. Er musste sich nur ganz auf seine Wiederherstellung konzentrieren, musste ackern, damit er endlich die Prothese bekam, und dann noch ein bisschen mehr ackern, damit er bei Paige ausziehen und sie ihr eigenes Leben fortsetzen konnte. Und er auch.
Auf ihn warteten ein neues Leben und ein neuer Job in Georgia, wo Noah, ein Kumpel aus seiner Einheit, nur darauf wartete, dass er sich bei ihm meldete.
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