Der Platz, an den Gott dich ruft,
ist dort, wo deine tiefste Beglückung
und der ungestillte Hunger der Welt
aufeinandertreffen.
Frederick Buechner
Ich lachte. Es hat ganz tief in mir begonnen und perlte nun geradezu von meinen Lippen. Jedes Mal, wenn ich nach oben flog, brach neue Freude sich überschwänglich Bahn. Ich flog durch die Luft, mein langes Haar tanzte gemeinsam mit den flatternden Rockschößen meines weißen Kleides. Höher und höher schaukelte ich unter dem grünen Blätterdom, durch den flirrend die Sonne schien. Es war einfach herrlich.
„Shaya!“
Abrupt wurde mein Schaukeln unterbrochen. „Kleine Shaya, wach auf!“ Unbarmherzig landete ich auf dem Boden.
Mühsam versuchte ich, meine Augen aufzumachen. Vom Flur drang ein schmaler Lichtstreifen ins Zimmer, meine Mutter stand groß und dunkel in der Tür. „Shaya, beeile dich, steh rasch auf und wasche dich. In fünf Minuten gehen wir.“
Sobald meine Mutter wieder verschwunden war, fielen mir die Augen erneut zu. Wieder befand ich mich unter dem zartgrünen Blätterdach. Doch eine Wolke hatte sich halb vor die Sonne geschoben. Die Schaukel, auf der ich eben noch gesessen hatte, schwang einsam aus.
„Shaya, wenn du nicht gewaschen bist, kannst du nicht zu Gott kommen. So schmutzig, wie du bist, darf man das Haus Gottes nicht betreten.“
Suchend drehte ich meine Hände hin und her. Jetzt war ich hellwach. Schmutz konnte ich keinen entdecken. Rasch schlüpfte ich in meine Pantoffeln und ging in den Flur. „Der Allmächtige sieht alles, geh und wasch dich!“
Meine Mutter schob mich ins Badezimmer und wusch meine Fingerchen. Es war vier Uhr in der Frühe, und ich war eben fünf Jahre alt geworden.
Ich hörte die Stimme meines Vaters von seinem Bett her: „Frau, lass doch die Kinder schlafen. Was soll das, in ihrem Alter schon Fasten und Beten?! Das ist doch ungesund. Sie brauchen ihren Schlaf!“
Meine Mutter hörte nicht auf ihn. Sie sorgte dafür, dass meine vier Geschwister und ich pünktlich beim Beten waren. Sie schien einen Schwur geleistet zu haben, mit allen Mitteln eine gute und Gott wohlgefällige Mutter zu sein. Das sah sie als ihre heilige Pflicht.
An Mutter sah ich schon als Kleinkind, was eine Frau zu tun und zu lassen hatte. Viel zu schnell verlangte sie dieses Betragen auch von mir, und ich konnte kein unbeschwerter Wildfang mehr sein, wie mich mein Vater manchmal zärtlich nannte. An meinem neunten Geburtstag legte meine Mutter mir einen nachtblauen Schal um die Schultern und zog ihn über mein Haar. „Wie gefällt dir diese Farbe, Shaya?“
Zaghaft nickte ich und starrte mein Spiegelbild an. Das sollte ich sein? Nun durften mich, außer meinem Vater und meinen Brüdern, keine Männer mehr ohne den Hijab sehen. Doch manchmal passierte es einfach trotzdem. Oft, wenn ich mit meinen großen Brüdern übermütig durchs Haus tollte, tauchte etwa unerwartet mein Onkel bei uns auf und brachte meine Cousins zum Spielen vorbei. Dann musste ich ab jetzt mein Haar bedecken und das sittsame Mädchen sein, was so gar nicht zu mir passen wollte.
„La ilaha illa Allah – Es gibt keinen Gott außer Allah!“ Wir beugten uns im Rhythmus der Verse, gemeinsam intonierten wir die „shahada“. Ich lag auf den Knien, gleich neben mir meine Schwester. Fünfmal am Tag sprachen wir mit den anderen Frauen im Gebetshaus das Glaubensbekenntnis. Wir beteten nicht nur pflichtgetreu, sondern fasteten auch und spendeten Geld für die Armen. Erfuhr ich von einem religiösen Programm, war ich garantiert dabei. Ich wünschte mir von Herzen, Gott zu gefallen und rechtschaffen zu sein. Außerdem sollte jeder, der mich kannte, gut von mir denken. Ich war eine gerechte junge Frau, an der selbst Gott nichts auszusetzen haben konnte.
Gott verlangte wirklich viel von mir, und meine Mutter hatte sich zu seinem Sprachrohr gemacht. Weinend lag ich auf meinem Bett, meine Schwester massierte mir den Rücken. „Schh, schh, Shaya, ist ja gut, ist ja gut.“
„Fatima, was ist mit meinen Träumen? Jahrelang habe ich mir ausgemalt, Stewardess zu werden. Ich wollte Sprachen lernen, um die ganze Welt reisen! Und nun will Mutter, dass ich heirate!“
„Wende dich an Vater, er wird ein gutes Wort für dich einlegen!“
„In diesen Dingen hat Mutter das letzte Wort, das weißt du. Sie sagt, es gehöre sich nicht, ein Mädchen in meinem Alter allein auf der Straße …“ Ich schniefte. „Mutter sagt, es sei höchste Zeit, dass ein Mann auf mich aufpasst.“
In mir wirbelte alles durcheinander. Ich war 17 Jahre alt, und der Mann, den Mutter ausgesucht hatte, war furchtbar alt, 31! Das hieß, ich musste vor dem Schulabschluss die Schule abbrechen und zu seiner Familie ziehen. Ich kannte diese Menschen nicht, ich hatte sie höchstens einmal von Weitem in der Moschee gesehen. Das durfte einfach nicht wahr sein! Innerlich sträubte sich alles gegen diesen Gedanken.
Es schrie unaufhörlich. Unbeholfen trug ich mein Baby auf und ab. Sang ein wenig, gab ihm die Brust, zeigte ihm Bilder und sprach auf es ein. Ich spielte damit, wie mit einer Puppe. Es beruhigte sich einfach nicht.
Mein Leben als Frau und neuerdings als Mutter war ein Albtraum, dem ich einfach nicht entrinnen konnte.
Ich starrte das Baby an, dies war mein Sohn! Ich musste ihn versorgen, stillen, Windeln wechseln, in den Schlaf wiegen – wie sollte das bloß gehen? Vom Sofa aus beobachtete mich meine Schwiegermutter. Sicher hatte sie gleich wieder etwas an mir auszusetzen. Seit ich in dieses Haus gekommen war, bestimmte sie oder ihre Töchter, was ich zu tun und zu lassen hatte. Nicht einmal zum Beten in die Moschee konnte ich mehr gehen. Darauf legte hier keiner wert, mein Mann schon gar nicht.
Es war einfach alles anders, als ich es von zu Hause gewohnt war.
Wie ich vermutet hatte, war mein Vater zwar gegen diese frühe Heirat gewesen, aber hatte sich nicht gegen meine Mutter durchsetzen können. Sie war der Auffassung, eine fromme Frau habe früh zu heiraten, Kinder zu bekommen und ihren Mann zu ehren und zu versorgen. Da ich ein Gott wohlgefälliges Leben führen wollte, willigte ich ein, wenn auch sehr widerstrebend. Als ich mich Mutter gegenüber beklagte, machte sie mir sehr deutlich klar, dass ich an Scheidung und Rückkehr nach Hause nicht zu denken brauchte.
Daher klammerte ich mich an meinen Glauben, las fromme Bücher und betete nun zu Hause alleine fünfmal am Tag. Es war der einzige Halt, den ich hatte. Meinem Mann, ich nannte ihn heimlich „den Alten“, lag wenig an Religion. Ich sehnte mich danach, meine Gedanken und mein Leben mit ihm zu teilen. Doch wir hatten nichts gemeinsam. Ich wünschte, wir könnten unsere Sorgen miteinander teilen. Doch er interessierte sich nicht für mich. Was er tat und wohin er ging, davon erfuhr ich nur selten etwas.
Dann glaubte ich, es würde alles anders. „Shaya, ich muss mit dir reden!“
Ich war aufgeregt. Endlich besprach der Alte einmal etwas nur mit mir alleine und nicht im Beisein seiner Mutter und Brüder. Wie oft hatte ich ihn darum gebeten.
„Shaya, ich habe alles verkauft. Dieses Land nimmt mir die Luft zum Atmen. All unser Geld habe ich einem Mann gegeben, der uns in die Türkei bringen wird.“ Er sah mich durchdringend an. „Dort werden wir uns ein völlig neues Leben aufbauen. Unsere Kinder werden eine Zukunft haben. Pack das Nötige ein, morgen früh um fünf Uhr geht es los.“
Ein flüchtiger Kuss, schon fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Hektisch fing ich an zu packen, innerlich wie versteinert. Alles in mir schrie: Bin ich denn kein Mensch? Warum befiehlt er mir einfach nur, was ich zu tun habe? Nie werde ich nach meinen Wünschen gefragt, nie habe ich auch nur irgendetwas zu sagen. Bin ich denn eine Marionette, die einfach perfekt zu funktionieren hat?
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