Etwas in mir war zerbrochen.
Mir war speiübel. In jeder anderen Situation hätte ich diesen Tag genossen. Blauer Himmel, weißer Sandstrand, lustige Schaumkronen auf den heranrollenden Wellen. Meer bis zum Horizont. Aber nicht heute.
Fest hielt ich meine beiden Kinder umklammert. Wir waren nicht im Urlaub. Wir waren auf der Flucht, illegal.
Der schmale Kutter war überfüllt mit Menschen. Dicht an dicht saßen wir auf schmalen Holzbänken, manche neben Beuteln, Säcken und Koffern auf dem Boden. Für die Wenigsten hatte der Kapitän eine Rettungsweste gehabt. Ich war wütend und hatte Angst. Aufgebracht starrte ich den Rücken meines Mannes an. Was würde mir die Ehe mit diesem Mann noch alles aufzwingen?
Jäh schreckte ich aus meinen heillosen Gedanken auf. „Mama, was ist das für ein Schiff?“ Wo? Suchend sah ich mich um. Vergaß für einen Augenblick meinen Frust. In rasender Geschwindigkeit näherte sich ein Boot. Schon schallte durchdringend eine Sirene über die dunklen Wellen. Die Männer sprangen auf, wild gestikulierend riefen sie unserem Kapitän zu, er solle Gas geben, irgendetwas tun. Doch es war natürlich aussichtslos. Die türkische Küstenwache hatte uns entdeckt und zwang uns, umzudrehen. Der unergründliche Blick meines Mannes traf mich. Seine Pläne waren buchstäblich ins Wasser gefallen.
War das die Strafe Gottes? Er sah alles, ganz sicher auch mein von Hass erfülltes, wütendes Herz.
Noch immer war ich jeden Morgen aufgeregt wie ein kleines Kind. Ich ging arbeiten! Und ich genoss es. Jede Minute. Wenn ich meinen Kundinnen die Haare wusch, diese sorgfältig schnitt und anschließend föhnte. Oder wenn ich Strähnchen färbte und die Damen beriet, die Farbe zu wählen, die ihren Teint vorteilhaft zur Geltung brachte. Ich brachte geschickt ihre Brauen in Form und bot ihnen Schönheitstattoos an. Wer hätte das gedacht? Ich fühlte mich wie der sprichwörtliche Fisch im Wasser.
Durch unsere unüberlegte Flucht waren wir in eine finanzielle Zwangslage gekommen. Mein Mann hatte seinen gesamten Besitz veräußert, um die Schleuser zu bezahlen, doch unsere Flucht war gründlich schiefgegangen. Wir hatten alles verloren und mussten zu Hause wieder ganz von vorne beginnen. Obwohl es sich in den Augen unserer Eltern nicht gehörte, dass eine Frau arbeiten ging, war es nun einfach nicht anders möglich. Wir waren darauf angewiesen, dass ich mitverdiente.
Wenn ich nach der Arbeit im Salon meine Kinder abholte, ging ich mit ihnen auf den Spielplatz. Manchmal kaufte ich ihnen ein Eis oder etwas anderes zum Naschen und spielte mit ihnen. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchfloss mich. Zum ersten Mal hatte ich selbst verdientes Geld in den Händen, mit dem ich tun und lassen konnte, was ich wollte. Egal, ob meine Mutter oder Gott das für schicklich hielten.
Hatte ich jemals Schmetterlinge im Bauch gespürt? Vermutlich war auch das alles andere als sittsam. Schritt für Schritt war es dem „Alten“ und mir gelungen, uns aus der Misere herauszuarbeiten, und wir waren dabei völlig auf uns allein gestellt gewesen. Anfangs hatte mein Mann mit mir geredet, mich einbezogen in seine Entscheidungen. Doch schon war er immer länger weggeblieben und wieder in sein gewohntes Verhalten zurückgefallen. Ich verdiente inzwischen so gut, dass meine Kinder und ich auch ohne ihn über die Runden kamen. Er behauptete zwar, mich zu lieben, doch ich fühlte nichts als eine graue, kalte Wand, wenn ich an ihn dachte. Vor zwei Jahren hatte ich mich scheiden lassen, es war eine Trennung in gegenseitigem Einvernehmen gewesen.
Mein neuer Kollege war ein ernster, höflicher Mann. Doch wenn sich unsere Blicke trafen, schenkte er mir jedes Mal ein Lächeln, das meine Tage heller machte. In seiner Gegenwart fühlte ich mich wie eine Frau. Begehrenswert, schön und wert, geliebt zu werden. Nie zuvor hatte ich so etwas erlebt. Warum sollte ich die Liebe nicht einfangen, wenn sie sich auf meiner Schwelle niederlassen wollte? Ich sagte Ja, als er mich fragte. Wollte es wagen, meine Geschicke den Händen eines Mannes anzuvertrauen, den ich liebte. Was konnte schon schiefgehen? Schließlich liebte er mich doch.
Shaya, dreh’ den Gashahn auf, dann ist das ganze Elend endlich vorbei. Ich hatte dieses Leben so satt. Nacht für Nacht wälzte ich mich stundenlang in meinem Bett, bevor ich in einen unruhigen Schlaf fiel. Ich verstand mich selbst nicht. Ich hatte den Mann meiner Träume geheiratet. Frey trug mich auf Händen, las mir beinahe jeden Wunsch von den Lippen ab und kümmerte sich rührend um mich. Und trotzdem war ich nicht glücklich. Am Morgen wachte ich übernächtigt auf und schleppte mich kraftlos zur Arbeit. Was war bloß los mit mir? „Gott, ich verstehe das nicht. Ich war unglücklich, weil ich den Alten nicht mochte. Frey liebe ich, und trotzdem habe ich kein Glück. Mein Leben ist ein einziges Chaos. Warum bloß?“
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Ich schreie, aber keine Rettung ist in Sicht,
ich rufe, aber jede Hilfe ist weit entfernt!
Mein Gott! Ich rufe am Tag, doch du antwortest nicht,
ich rufe in der Nacht und komme nicht zur Ruhe.
Psalm 22,2-3 (NGÜ)
Ich begann, geistliche Schriften zu lesen und versuchte, Verse aus dem Koran zu beten, auch wenn ich sie kaum verstand. „Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Mein Leben ist dunkel. Gleich einem Abgrund, der mich zu verschlingen droht. Hör mein Schreien und hilf mir …“
Es war zwei Uhr in der Frühe, und ich konnte wieder einmal nicht schlafen. Ich holte mir ein Heft hervor und schrieb die Worte aus dem neu entdeckten Buch ab, um sie auswendig zu lernen: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Hilf mir.“
Die Worte sprachen mir direkt aus der Seele. Kannte der Schreiber mich? Ich war verzweifelt. Genau wie die Perlen der Tasbih unaufhörlich durch meine Finger flossen, drehten sich meine Gedanken und fanden keine Ruhe. Ohne meine Gebetskette war ich nirgends mehr anzutreffen.
„Warum hast du mich in diese Lage gebracht, Gott? Warum macht mir mein Stiefsohn Ärger und plagt mich in seiner Eifersucht, bis ich nicht mehr kann? Warum sagt meine Mutter, ich sei selbst schuld? War es nicht sie, die mich damals gegen meinen Willen mit dem Alten verheiratet hat? Warum reicht uns das Geld nicht? Was hat das alles für einen Sinn? Was soll ich bloß tun? Gott! Bitte.“
Der Ärger lauerte mittlerweile in mir wie ein wütender Köter an seiner Kette, der beim geringsten Anlass hervorspringt und sich die Kehle heiser kläffte. Ich war des Lebens so müde.
Trotzdem zwang ich mich, jeden Morgen um fünf Uhr aufzustehen. Bevor ich zum Gebet in die Moschee ging, badete ich, legte Make-up auf und frisierte mich. Dann hüllte ich meine Schönheit sorgfältig in den Hijab.
Selbst Gott will mich nicht so sehen, wie ich bin. Diese Erkenntnis traf mich eines Morgens wie ein Fausthieb direkt ins Gesicht. Ich brach weinend zusammen. Jeden, der mir in die Quere kam, schrie ich wütend an. Mechanisch zwang ich mich weiterzumachen, doch der Hund an der Kette war ein wildes Ungeheuer. Eisern versuchte ich, mich zusammenzureißen, ihn zu bezähmen. Trotzdem gingen mir meine Kinder scheu aus dem Weg.
„Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Mein Leben ist dunkel. Gleich einem Abgrund, der mich zu verschlingen droht. Hör mein Schreien und hilf mir …“
Wieder und wieder las ich diese Worte. Sie verschafften mir seltsamen Trost.
Ich bezahlte meine Fahrkarte und ging hoch aufgerichtet durch den Mittelgang. Ich ließ mich auf einem freien Sitzplatz nieder. Bleich und abgemagert starrte mich in den Scheiben des Busses mein Spiegelbild an, während draußen die Landschaft vorbeizog. Wie viele Jahre war es her, dass ich alleine mit dem Bus nach S. gefahren war? Immer noch wunderte ich mich, dass mein Mann mir erlaubt hatte, alleine zu fahren.
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