Er sah nur noch rot, doch der Mann ließ sich nicht beirren. Mit einem Fuß im Büro und dem anderen im Flur, richtete er Naid die angeblich göttliche Botschaft aus: „Gott lässt dir sagen: ‚Ich möchte, dass du dich entscheidest. Deinen gesamten Besitz, deinen Erfolg, dein Büro – all das habe ich dir gegeben. Bis heute habe ich meine Hand über dich gehalten und dich beschützt. Du hast drei Tage Zeit, um dich zu entscheiden. Möchtest du meine Hilfe oder nicht?‘“
„Raus! Raus! Sofort!“
Naids Schreie hallten durch das Treppenhaus und wurden unterstrichen vom lauten Knall seiner Bürotür, die er dem Mann buchstäblich ins Gesicht warf. Warum konnten ihn diese Christen nicht in Ruhe lassen? Zuerst hatte seine Schwester begonnen, ihn mit diesem Jesus zu nerven. Dann hatte auch noch seine Mutter angefangen, in dasselbe Horn zu blasen. Er solle Jesus für seinen Erfolg danken. Immer wieder fingen sie damit an. Und nun auch noch Reza und der Pastor mit seiner angeblich göttlichen Nachricht! Diese Christen waren allesamt verrückt.
Naid schloss die Tür hinter sich, es hatte etwas Endgültiges. Der 19-Jährige stürmte die Treppe hinunter und sprang in seinen Mercedes. Doch die Worte seiner Schwester verfolgten ihn. „Hast du dich eigentlich schon einmal bei Gott dafür bedankt, dass dein Geschäft so gut läuft?“
Er war aufgebracht. Gott gedankt? Wieso sollte er? Pausenlos hatte er für die Schule gebüffelt und in einem Jahr den Stoff von Zweien gemeistert. Anschließend hatte er seine ganze Zeit und Energie in sein Studium investiert und nebenher sogar noch Webseiten für Firmen entworfen. Er hatte einfach ein Händchen für Computer, und dadurch waren jede Menge lukrativer Kontakte zustande gekommen. Den Erfolg verdankte er seinem eigenen Fleiß und Grips – und ganz bestimmt nicht Gott! Davon war Naid ganz fest überzeugt.
Es gab Leute, die brauchten Gott für alles. Und die Allerschlimmsten waren diejenigen, die mit der Religion anderen auf die Nerven gingen oder sie unter Druck setzten. Er hatte genug von dieser Sorte kennengelernt.
Seiner Familie hatte Religion bislang eigentlich nie sonderlich viel bedeutet. Klar, sie hatten die üblichen Traditionen praktiziert. Das tat doch schließlich jeder. Aber darüber hinaus machte Religion alles nur kompliziert und verursachte Ärger.
Er beschleunigte seinen Wagen und setzte zum Überholen an.
Seit einigen Monaten war der Streit um den rechten Glauben bei ihnen zu Hause zum Dauerthema geworden. Ständig redeten die anderen von Jesus. Seine Schwester bekam gar nicht genug davon. Sie und Mutter behaupteten, Jesus würde leben und hätte ihnen ihre Schuld vergeben. Und jetzt wollten sie auch Naid davon überzeugen.
Das war doch alles Irrsinn. Er wollte nichts mehr davon hören.
„Es tut uns leid, Sie enttäuschen zu müssen, aber wir können nur diese vier Gemälde von Ihnen ausstellen.“ Maraya verstand die Welt nicht mehr. Wie bitte, ihre Bilder würden die Menschen auf unsittliche Gedanken bringen?! Dabei war ihr Lehrer so begeistert von ihren Arbeiten gewesen! Ja, Maraya malte auch Frauen, die nicht vollständig verschleiert waren. Aber das offene Haar war doch nur Zeichen ihrer Schönheit und Würde. Neuerdings waren die religiösen Gesetze wirklich schlimm geworden. Maraya fand das inakzeptabel.
Die junge Frau war traurig und verletzt. Dass das ausgerechnet ihr passierte … Ihr Glaube war ihr lange Zeit wichtig gewesen. Während ihre Mitstudentinnen regelmäßig feiern gegangen waren und das Leben genossen hatten, war sie brav in die Moschee gelaufen. Seit sie Kind war, hatte sie sich bemüht, Gott gefällig zu leben. Hatte regelmäßig gebetet, viele Texte des Korans auswendig gelernt. Auch wenn sie die Sprache gar nicht verstanden hatte, in der er geschrieben war.
Doch inzwischen hielt auch sie nicht mehr viel von der Sache. Vor Kurzem hatte sie den Koran in ihrer Muttersprache gelesen. Was sie dabei entdeckt hatte, hatte sie zutiefst schockiert. Sie empfand ihn an vielen Stellen als unglaublich frauenfeindlich. Er sprach über Frauen, als wären sie reine Objekte zur Lustbefriedigung. Und müssten als solche kontrolliert werden. Der Himmel schien einem Bordell nicht unähnlich. Für sie hatte nach dieser Lektüre festgestanden: „Dieser Gott ist krank, und damit möchte ich auf keinen Fall mehr etwas zu tun haben.“
Maraya versuchte sich mühsam loszureißen von ihren trüben Gedanken. Sie war auf dem Weg zur Musikschule. Seit vier Jahren schon wollte sie hier Unterricht nehmen, doch nie hatte sie die ausgemachten Termine wahrgenommen. Heute, nach diesem Desaster an der Kunsthochschule, war es endlich an der Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen.
Schon immer hatte sie Sängerin werden wollen, und der armenische Musiklehrer war ihr wärmstens empfohlen worden. Dass er sich bereit erklärt hatte, sie zu unterrichten, obwohl sie ihn vier Jahre lang ständig versetzt hatte, wunderte sie insgeheim. Endlich würde sie den ersten Schritt in ein neues emanzipiertes Leben gehen. Ohne Gott.
Naid war in Feierlaune. Für ihn stimmte an diesem Abend einfach alles: die Frau in seinem Arm, die Aussicht über das Lichtermeer der Stadt, seine Freunde und die Drinks. Er ließ eine vergoldete Kirsche in den perlenden Champagner fallen und warf grinsend in die Runde: „Wer hätte gedacht, dass 5000 Euro so lecker schmecken?“
Alle lachten und schlugen Naid auf die Schulter! Während die Kirsche in seinem Glas kreiste, sah er zu, wie goldene Flocken sich um sie drehten. Er prostete seinen Freunden zu, keiner hatte sich diese Party entgehen lassen wollen: Sie rauchten und tranken – von allem nur das Feinste –, und Naid unterhielt sie mit seinen Geschichten. Jeder hing an seinen Lippen.
Erst vor wenigen Wochen hatte er sein Studium abgeschlossen, und schon war er so erfolgreich. Er entwickelte Webseiten für Kunden mit hohen Ansprüchen und einem dicken Geldbeutel. Er war quasi über Nacht reich geworden. Das Geld floss durch Naids Hände, genauso wie der Champagner an diesem Abend, mit dem sie seinen Erfolg begossen. Seiner jungen Frau Niki imponierte das. Sie liebte das Leben an Naids Seite.
Am Horizont dämmerte es bereits, während sie von der Lounge hinabfuhren und in das funkelnde Häusermeer eintauchten. Sie genossen den Blick auf einen der höchsten Fernsehtürme der Erde, von ihrem gläsernen Fahrstuhl aus bot sich ihnen ein fantastischer Blick über die 18-Millionen-Stadt. Ihr Taxi wartete bereits; kurz darauf tauchten sie in den nie zur Ruhe kommenden Verkehr ein und fuhren nach Hause.
Trotz der durchfeierten Nacht stand Naid früh auf und fuhr ins Büro. Während der Fahrt dachte er über ein Projekt nach, an dem er gerade arbeitete. Internet und Computer boomten, und jeder wollte eine Homepage oder einen Imagefilm, um sich im Netz zu präsentieren. Seine Dienste waren gefragt. Inzwischen hatte er sogar fast dreißig Angestellte. Manchmal konnte er es selbst kaum glauben, wie schnell es ihm gelungen war, in der Branche zu landen und so viel Geld zu verdienen. Er musste lächeln, als er an den Drink gestern Abend dachte. Wer Geld hatte, machte sich eben keine Gedanken mehr darüber, ob ein Champagner 50 oder 5000 Euro kostete.
Am späten Vormittag klingelte das Telefon, und seine Bank bat um einen Termin. Naid sagte ohne zu zögern zu. Sicherlich wollten sie ihm Vorschläge zur Vermögensverwaltung machen.
Die beiden nadelgestreiften Herren lächelten nicht. Vielleicht steckte ihm doch noch ein wenig der Kater vom gestrigen Abend in den Knochen? Oder war es dieser unerfreuliche Besuch des Pastors, der ihm mit seiner angeblichen Botschaft von Gott die Laune verdorben hatte? Er versuchte sein Bestes, um sein Unbehagen abzuschütteln. Die Berater saßen ihm steif gegenüber. Auch durch Naids lockere Sprüche ließen sie sich nicht aus der Reserve locken. Kühl und distanziert legten sie ihm seine finanzielle Situation dar, sprachen von Schulden und überzogenen Konten, von ungeduldigen Gläubigern und seinem Bankrott.
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