Dieses Geschehen kann man interpretieren als eine Verdichtung und Konkretisierung des göttlichen Geistes in das Wort und des göttlichen Wortes in menschlicher Gestalt. Gott lässt sich als Mensch auf die Bedingungen von Raum und Zeit ein. Der göttliche Geist verdichtet sich nicht nur im Wort, das Mensch wird, sondern in anderer Weise auch in jedem Menschen und in wieder anderer in jedem Begriff. Jeder Begriff in den vielen Sprachen der Welt enthält den göttlichen Geist. 22Und dieser göttliche Geist wohnt auch in jedem einzelnen Menschen, man nennt ihn den göttlichen Geist, den Heiligen Geist (später mehr dazu). Dieser ist dem Menschen innerlicher als er sich selbst sein kann (Augustinus), also nahezu noch näher im Menschen als der göttliche Geist im Sohn als Gegenüber.
Bevor dieses Zueinander von Vater, Sohn und Heiligem Geist genauer betrachtet wird, kann man noch einmal einen Schritt zurücktreten und die Menschwerdung des göttlichen Wortes anders betrachten: Gott offenbart sich dem Volk Israel, aber das Volk Israel versteht nicht genau, was Jahwe von ihm will und widersetzt sich seinen „Anordnungen“. Seine Regeln sind zu schwer einzuhalten. Lieber fällt es wieder in seine alten Abhängigkeiten im Haus Ägypten zurück, als den Weg in die Freiheit weiterzugehen. Denn diese Freiheit muss immer wieder mühsam erkämpft werden, sie führt auch durch die Wüste.
Die Mühsal des Weitergehens in die Freiheit führt immer wieder in die Versuchung, umzukehren und zu den Fleischtöpfen Ägyptens zurückzukehren. Da war zwar Knechtschaft und Gefangenschaft, aber es war bequemer. Freiheit und Eigenverantwortung erfordern tägliche Arbeit, gehen durch Einsamkeit und Wüste hindurch und machen auch Angst. Der Weg in die Freiheit ist beschwerlich. Aber er geht unaufhaltsam weiter und ist nahezu unumkehrbar. 23So wie ein Kind, das gezeugt wurde, geboren werden muss, da es sonst, wenn es im Geburtskanal stecken bleibt, stirbt und den Organismus der Mutter vergiftet, so muss sich auch Freiheit immer weiter nach vorne entwickeln auf mehr Freiheit hin.
Bevor genauer bestimmt wird, was diese Freiheit ist, soll noch einmal festgehalten werden, dass der Mensch auch in der Geschichte erst langsam zu dieser Freiheit heranreift. Er wird erst langsam durch seine eigene Entwicklung hindurch freiheitsfähig. Wie in der Kindheitsentwicklung ein Werdeprozess stattfindet vom Gehorsam des Kindes seinen Eltern und anderen Über-Ich-Strukturen gegenüber hin zum Freiwerden des jungen Menschen zur Selbstbestimmung (was dann auch mehr Verantwortung bedeutet), so gibt es auch einen Reifungs- und Befreiungsprozess des Menschen in der Weltgeschichte hin zum Mündigwerden des Einzelnen und zu seiner Autonomie.
Man kann den Prozess der inneren Reifung des Menschen hin zur Befähigung zum Freiheitsvollzug auch so nachzeichnen: Der Auszug des Volkes Israel aus Ägypten mit der befreienden Tat Gottes ist in der Weltgeschichte relativ jung. Erst vor etwa 3500 Jahren beginnt Gott, sich ganz langsam dem Volk Israel mit seinem Befreiungshandeln zu nähern. Es beginnt seine Selbstoffenbarung. Und erst vor etwa 2000 Jahren verdichtet und konkretisiert sich der göttliche Logos zu einer menschlichen Gestalt mit dem Ziel, den Menschen auch innerlich zu befreien.
Erst jetzt beginnt nach der äußeren Befreiung im Alten Testament der lange Prozess der inneren Befreiung des Menschen im Neuen Testament. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit.“ (Gal 5, 2) Auch dieser Prozess dauert in der Weltgeschichte einige Zeit. Was in der Biografie des Einzelnen zehn oder 20 Jahre dauert, dauert in der Weltgeschichte vielleicht 1000 oder 2000 Jahre. Nach dem alten Satz, „dass beim Herrn ein Tag wie 1000 Jahre und 1000 Jahre wie ein Tag sind.“ (2 Petr 3, 8) Auch die europäische Geschichte musste sich erst mühsam über viele Kriege zu dieser Befreiung hin durchkämpfen. In Nordafrika und in den muslimischen Ländern beginnt sie gerade erst.
Es sieht so aus, als würde die äußere Befreiung, die im Judentum begonnen hat und die sich als innere Befreiung des Menschen im Christentum weiterentwickelt, erst jetzt in der Gegenwart ganz langsam beim Menschen ankommen. Der Mensch befreit sich mehr und mehr von Über-Ich-Strukturen und äußeren Autoritäten. Das hat mit der 68er Generation begonnen und setzt sich fort im Raum der Kirche. Der Mensch emanzipiert sich von äußeren Über-Ich-Strukturen. Er will sich von äußeren Autoritäten nichts mehr sagen lassen. Er möchte selbst entscheiden können, was er tut, und er möchte selbst herausfinden, worum es im Leben geht.
Er möchte Zusammenhänge verstehen lernen sowie innere geistliche Erfahrungen machen, und nicht mehr nur Befehlen, Geboten oder Verboten folgen. Er braucht Argumente, um einsehen zu können, warum er so oder so handeln soll, und er bedarf der Reflexion über seine inneren Erfahrungen, um sein Innenleben verstehen zu können und zu erkennen, was in ihm vorgeht. Es ist der Überstieg von der äußeren Autorität hin zur inneren Autorität. Dies ist die wahre Autorität (von „augere“: „wachsen lassen“). Denn diese innere Autorität macht den Menschen nicht klein und unterdrückt ihn, sondern macht ihn groß und führt ihn in die Freiheit und Autonomie.
Und so gehört beides zusammen: Ethik und Spiritualität. Es ist eine zentrale Aufgabe für das Christentum, dem Menschen ethische Argumente für sein Handeln zu liefern und ihm zu helfen, seine inneren Erfahrungen und Seelenregungen verstehen zu lernen. Das eine ist die äußere Autorität der Normen, und das andere ist die innere Autorität der Wahrheitsstimme, des Gewissens, der Stimme Gottes. Die verschiedenen Stimmen und Seelenregungen im Menschen unterscheiden zu lernen (s. u.), nennt die Tradition die „Unterscheidung der Geister“. Gerade diese Kenntnis ist heute von zentraler Bedeutung für konkrete Entscheidungsfindungen im Alltag. In beiden Bereichen müsste der Mensch von heute besser unterrichtet werden.
Es scheint so zu sein – allem Wehklagen zum Trotz –, dass Gott dem Menschen heutzutage noch näher kommt als im Judentum und im bisherigen Christentum: Der Mensch kann Gott und sein Wirken in seiner leiblichen Verfasstheit erspüren. Aber er braucht „Lehrer“, die ihm helfen, das zu entdecken. Es scheint nämlich so zu sein, dass das Normalste und Selbstverständlichste in der Welt zu etwas Göttlichem wird: dass man sich über etwas freuen kann, dass man sich irgendwie fühlt, dass man irgendwie in Stimmung ist, dass man – wie Heidegger sagt – immer irgendwie gestimmt ist: fröhlich, traurig, gelangweilt, interessiert, zerrissen oder ganz bei sich, in seiner Mitte oder „außer sich“. All diese Stimmungszustände haben etwas mit dem Verhältnis des Menschen zu Gott zu tun. Diese inneren Gestimmtheiten verstehen zu lernen, wäre heutzutage ein wichtiges Desiderat für die Vermittlung von christlicher Spiritualität. Denn Gott zeigt sich ganz still und ganz verborgen, er will gefunden und entdeckt werden. Vielleicht sollte man deswegen auch nur ganz sparsam über ihn reden, umso mehr mit ihm.
Eine solche christliche Spiritualität sollte dem Menschen durch konkrete Alltagsanleitungen helfen, gute Entscheidungen zu treffen. Es ist eine Spiritualität der richtigen Entscheidungen und des Handelns aus der inneren Mitte heraus. Diese Entscheidungen wären nicht von außen aufoktroyiert, sondern von innen her als richtig und tragfähig erkannt (vgl. das Kapitel über die Unterscheidung der Geister). Anders gesagt: Wenn Gott dem Menschen innerlicher ist als er sich selbst ist, (Augustinus) dann kann der Mensch aus dieser inneren Mitte heraus bessere Entscheidungen treffen als ohne diese Anbindung – und die Wahrheit nicht nur besser erkennen, sondern sie vor allem tun, und das heißt, das Richtige tun! Daher heißt es im Neuen Testament: „Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht.“ (Joh 3, 12)
Читать дальше