Abgesehen von seinem pubertären Liebesbekenntnis und den ersten Schreibversuchen gewährt dieses Tagebuchfragment noch weitere Einblicke in Weigels Jugendwelt. Wiederholt äußert er sich über die Schule und die Ungeduld, diese zu verlassen, wie dies etwa auch eine Eintragung vom 15. September 1925 einmal mehr zeigt. Und am Ende seiner Eintragung vom 23. Oktober ein Stoßseufzer: „Wie froh werde ich sein, die Mittelschule, trotz allem, hinter mir zu haben!“ Auffallend ist dabei, dass er dann jedoch nichts über die Matura selbst und das Gefühl der Erlösung danach berichtete.
Wesentlich interessanter sind Weigels Anmerkungen über seine anderen Aktivitäten. Er besuchte sehr häufig Theater, Oper, Vorträge und vor allem Konzerte, denn Musik war für ihn einerseits „die einzige Flucht und Rettung“, andererseits „ein Laster, wie Nikotin, ich kann ohne sie nicht sein, habe den Drang […] möglichst viel zu ‚konsumieren‘“. War seine Stimmung auch noch so schlecht, die Musik befreite ihn. Und wie auch in späteren Jahren war Franz Schubert „Regent auf allen Linien“. Seine Lieder spielte er auf der Flöte gelegentlich ganze Nachmittage und er war „immer auf ’s neue begeistert“. Das Gesehene und Gehörte beurteilte er in Stichworten, wobei schon seine kritische Vorliebe zum Vorschein kommt: „[…] das Stück [ Pygmalion von George Bernard Shaw] als ganzes geschickt gemacht, aber ziemlich unbedeutend, einzelnes, wie immer bei Shaw hervorragend, Aufführung recht gut. Gestern Meistersinger Volksoper […] Die Oper hat nicht den erwarteten ganz großen Eindruck auf mich gemacht, einzelnes sehr schön, aber als Ganzes, als Eindruck kein Vergleich mit Tristan oder dem Ring.“ Nach solchen Worten nimmt es auch nicht wunder, dass Weigel seine Musikbegeisterung am 4. Oktober 1925 in Verse fasste:
O meine Liebe und meine Flöte,
Was tät ich, wenn ich Euch nicht hätte?
Dann gäbe es nichts auf der ganzen Welt,
Was mich bewegt, was mir gefällt
Und nicht vermöchte mir zu wehren,
Der bösen Welt den Rücken zu kehren.
Drum seid bedankt ihr lieben beiden,
Ihr meine einzigen irdischen Freuden,
Ich weiß nicht, was ich ohne euch täte,
Ohne die Liebe und ohne die Flöte.
Begeistert fügte er am Abend desselben Tages hinzu: „Es gibt doch noch etwas Schönes auf der Welt, z. B. den heutigen Nachmittag: zuerst musiziert […], dann improvisiert, etc., dazwischen unterhalten (auch das Blödeln hat oft etwas Befreiendes).“ Weigel sollte auch später als Erwachsener bekannt für sein „geistreiches“ Blödeln sein, das in dem schmalen Bändchen Blödeln für Anfänger (1963 bei Diogenes erschienen) mit Zeichnungen von Paul Flora seinen Höhepunkt fand. Für Weigel war Blödeln „höherer Blödsinn: Blödsinn, welcher im Idealfall derart erhöht wird, dass er nicht mehr blöd und nur noch Sinn ist – Unsinn zum Zweck der Überwindung des Unsinns“, wie er am Buchrücken vermerken ließ.22
Im Tagebuchfragment folgten darauf nur mehr zwei unbedeutende Eintragungen. Es endete am 14. Mai 1928 mit der relativierenden Selbsterkenntnis: „Ich finde ja, damals ein recht dummer Junge gewesen zu sein, mit unwirklichen Vorstellungen romanhafter Art von ihr.“ Über seine Matura, seine Aufenthalte in Hamburg und Berlin schrieb er nichts mehr, er ließ aber in seine späteren Schriften mehrfach Erinnerungen an diese Schulzeiten bis zur Matura einfließen.
In den Osterferien 1926 besuchte Hans Weigel zusammen mit einem gleichaltrigen Freund mit großem Interesse die Museen, Konzertsäle und Theater von München. Für ihn war es die erste fremde Großstadt, die ihm sehr gut gefiel. „Vielleicht“, so meinte er in Das Land der Deutschen mit der Seele suchend, „imponierte mir die Regelmäßigkeit, die Übersichtlichkeit der breiten Straßen und Plätze. Das Deutsche sprach mich an. […] Ich war ein Freund des Deutschen und der Deutschen geworden. Und das mag damit zusammenhängen, dass mir Deutschland nicht nur sauberer schien, sondern daß mir auch das Deutsch der Deutschen sauberer schien, als das, was rund um mich gesprochen wurde.“23
Das Hauptereignis dieses Jahres war jedoch die Matura: Es war damals am Beethoven-Gymnasium obligatorisch, die schriftliche Reifeprüfung in den Fächern Latein, Griechisch, Deutsch und Mathematik abzulegen und eine „Matura-Arbeit“ zu verfassen, vergleichbar einer Seminararbeit. Zur mündlichen Prüfung musste ein Gegenstand der vier schriftlichen und ein frei ausgesuchtes Fach gewählt werden. Weigel entschied sich für Geografie und Deutsch. Das Thema der Arbeit lautete: „Die Alpenbahnen Österreichs.“ Dafür recherchierte er in Archiven, auch im damaligen Eisenbahnministerium. Diese Arbeit machte ihm Spaß, umso größer war seine Enttäuschung, darauf nur ein „Gut“ erhalten zu haben, weil er die 28 Kilometer lange Strecke von Friedberg nach Hartberg nicht erwähnt hatte. Diese – ihm bestens bekannt – hatte für ihn im engeren Sinn nicht zu den Alpenbahnen (wie etwa die Bahnen über den Semmering, den Brenner, den Arlberg, die Tauern- und die Mittenwaldbahn) gezählt. Das ärgerte ihn so, dass er – für ihn typisch – kurz nach der Matura eigens von Hartberg nach Friedberg fuhr und feststellte, dass dies seiner Definition nach keine Alpenbahn wäre.
Maturaklasse, Hans Weigel in der Mitte der 2. Reihe (mit Brille)
Bei den schriftlichen Prüfungen hatte er, wie er sich in seiner Autobiografie erinnerte, außer in Mathematik keine Schwierigkeiten. Von den vier Beispielen, die hier zu lösen waren, war eines relativ einfach, zwei schob er von Beginn an als für ihn unlösbar zur Seite und beim vierten, einer Gleichung, wusste er nicht weiter. Er drehte sich in einem unbeobachteten Augenblick zu seinem Hintermann, der ihm „Subtrahieren!“ zuflüsterte, sodass er die Gleichung lösen konnte und daher die – wie er festhielt – lebensgefährliche Klippe einer mündlichen Mathematikprüfung umschiffen konnte.24
Das Thema in Deutsch lautete „Der dritte Stand im deutschen Drama – von Lessing bis Gerhart Hauptmann“. Die Beurteilung „Genügend“ zeigt, dass sich bei Weigel eine schriftstellerische Laufbahn noch keineswegs abzeichnete; bekanntlich stand er mit dieser schulischen Beurteilung in Deutsch nicht allein unter den Schriftstellern da. Sein vorrangiges Interesse lag zu dieser Zeit, gefördert von seiner Mutter, sicherlich bei der Musik. Nicht nur, dass er, wie bereits geschildert, Konzerte und die Oper besuchte, er konnte ein wenig Klavier spielen, vor allem aber sehr gut Flöte, die er auch wirklich gerne spielte.
In In die weite Welt hinein berichtete der erwachsene Hans Weigel rückblickend: „Die Mündliche in Geographie ist gut ausgegangen, war aber doch blamabel. Ich wusste nicht, wie hoch der Mount Everest ist. Wozu auch? Man kann ja nachschauen. – Die Mündliche in Deutsch war fulminant. Ich war zum ersten- und letzten Mal im Leben ein wirklich guter Schüler, das heißt: nein, im Gegenteil. Ich wurde nach Gottfried Keller gefragt, ich liebte Gottfried Keller, hatte alles Erforderliche gelesen, kannte auch die Biographie, diese vielleicht aus der Deutschstunde, aber alles andere: ‚Die Leute von Seldwyla‘, ‚Das Sinngedicht‘ und vor allem den ‚Grünen Heinrich‘ hatte ich aus Eigenem zu mir genommen. […] Man soll, finde ich, lernen […]: einen Stoff zu bewältigen, man sollte Lernen lernen, etwas Nicht-Naheliegendes lernen […]“25
Am Abend der bestandenen mündlichen Matura begleiteten ein Klassenkollege und Hans im Orchester im Floridsdorfer Arbeiterheim die Solistin Gertrud Schiff bei Mozarts Violinkonzert in A-Dur, sein Freund auf der Klarinette, er selbst auf der Flöte. „Konnte man die Reife schöner feiern als durch die Mitwirkung an dem A-Dur-Violinkonzert? […] Bis zu diesem Abend war alles, was mich betraf“, schreibt Hans Weigel in seiner Autobiografie, „in vorbildlicher Übersichtlichkeit verlaufen, immer in Wien, sechs plus vier plus acht, sechs Jahre Vorkriegszeit, vier Jahre Volksschule und Krieg, acht Jahre Gymnasium und Nachkriegszeit.“26 Die Zeit bis 1945 sollten diese „Übersichtlichkeit“ und Stetigkeit nicht mit sich bringen.
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