Lehrjahre in Hamburg, Berlin, Paris und Wien
„Mein Vater wünschte sich für mich einen kaufmännischen Beruf; er war bereit, mich studieren zu lassen, was ich wollte.“1 Außerdem sollte der Maturant Hans Weigel die Welt kennenlernen. Da sein Vater alles Britische verehrte, sollte er zunächst die Londoner School of Economics besuchen. Diese und andere Handelshochschulen sagten ihm jedoch nicht sonderlich zu. „So kam die undezidierte Entscheidung zustande: Jus-Studium, das kann man immer brauchen, und zwar in Hamburg, wo eine kaufmännische Atmosphäre herrschte.“2
Mit gutbürgerlichem Taschengeld wohnte Hans Weigel in seinem ersten Semester von September 1926 bis zum Frühjahr 1927 bei zwei alten, für Thomas Mann schwärmenden Damen in einem möblierten Zimmer in Harvestehude, Isestraße 51. Er belegte alle Rechtsfächer, die für die Erstsemestrigen vorgesehen waren, aber auch Philosophie und Psychologie. Darüber hinaus besuchte er Musikvorlesungen und einige über russische Literatur, hatte zum letzten Mal Flötenunterricht, besuchte Symphoniekonzerte und die Oper. Großen Eindruck hinterließ eine Orpheus -Aufführung von Jacques Offenbach im Thalia Theater mit singenden Schauspielern wie Gustaf Gründgens und Viktor de Kowa als Hans Stix.
Auch begann Weigel in Hamburg zu schreiben, „nur so für mich und gar nicht begabt“.3 In Das Land der Deutschen mit der Seele suchend war er 1978 der Ansicht: „Hätte es damals den Hans Weigel gegeben und ich hätte ihm Arbeitsproben geschickt, er hätte mich nicht zum Weiterschreiben animiert.“ Ebendort hielt er fest, dass ihm immer, wenn er später nach Hamburg kam, wegen der Erinnerungen an 1926 „das Herz aufging“, er seinen Glauben an Deutschland wiedergefunden habe, da es dort nicht nur nach See, sondern vor allem „nach Demokratie duftet“.4
Am Ende dieses ersten und einzigen ernst genommenen Wintersemesters 1926/27 reiste Weigel – seiner Erinnerung nach im Februar 1927 – nach Berlin, um in einem Verlag eine Stelle zu finden, die Literatur und kaufmännischen Beruf verband. Nachdem er bei S. Fischer und anderen „freundlich unverbindlich abgefertigt“ worden war, fand er ab April 1927 eine Anstellung für 28 Mark im Monat als Lehrling bei Die literarische Welt , einer von Ernst Rowohlt und Willy Haas 1925 gegründeten Wochenzeitschrift, dem Unabhängigen Organ für das deutsche Schrifttum, die sich zum Zeitpunkt seiner Vorsprache gerade als selbstständige GmbH von Rowohlt gelöst hatte und daher für zusätzliche Mitarbeiter offen war.
Weigel wohnte in einer Pension am Nürnberger Platz und war überwältigt von dem, was er in Berlin vorfand: Er sah Werner Krauß, wie er sich zu erinnern glaubte, in Fritz von Unruhs Bonaparte in der Regie von Gustav Hartung mit Dagny Servaes als Joséphine sowie den ein Jahr zuvor, am 14. Dezember 1925, unter Erich Kleiber an der Staatsoper Unter den Linden uraufgeführten Wozzeck von Alban Berg. Weigel fühlte sich wohl in dieser Stadt, „von der man sofort adoptiert wurde“.5 Doch nicht allein Theater, Opern und Konzerte ließen ihn in Berlin seine „Menschwerdung“ widerfahren, sondern auch die Tatsache, dass diese Hauptstadt der Künste Begabungen und Genies anzog: Musiker, Schauspieler, Regisseure, Sänger und Schriftsteller wie Arnold Schönberg, Franz Schreker, Max Reinhardt, Robert Musil, Alfred Polgar, Erich Kästner, Bert Brecht … Weigel gefiel, „dass in Berlin auf den Strassen spät abends ein so dichter Verkehr wimmelte wie in Wien am späten Nachmittag. Berlin war hell, Berlin war schnell, Berlin hatte einen höheren Blutdruck und einen besseren Tonus, Berlin war, und das gehört zu seiner Attraktivität, von Berlinern bewohnt“.6 Ähnliches sollte er 21 Jahre später an seinem ersten Abend in New York feststellen.
In diesen Monaten war er begierig darauf, Theater und Musik zu konsumieren, und kam bei all den Berliner Größen der damaligen Zeit voll auf seine Kosten: bei Erwin Piscator am Nollendorfplatz, im Staatlichen Schauspielhaus, bei Fritz Kortner als Oscar in Gespenster , Werner Krauß in Peer Gynt von Henrik Ibsen mit Frida Richard als Aase in Bertold Viertels Inszenierung, im Schillertheater mit Frank Wedekinds Musik mit Maria Koppenhöfer, den beiden Opernhäusern, den Konzerten unter Wilhelm Furtwängler, Bruno Walter, Erich Kleiber und Otto Klemperer … Doch war er auch als „reiner Konsument“ schon kritisch, zählte die eine oder andere Piscator-Inszenierung zu den dummen, Fritzi Massary sah er als überschätzte Diva an. Er sah schreckliche Klassikeraufführungen wie Heinrich VI. mit Eugen Klöpfer, Paul Wegener und Ernst Deutsch, ebenso langweilig zelebrierten Naturalismus wie die von Karlheinz Martin „fad“ inszenierte Rosa Bernd mit Käthe Dorsch … Dagegen aber standen: Werner Krauß, Grete Mosheim, Carola Neher, Curt Bois, Oskar Homolka, Fritz Kortner, Maria Koppenhöfer, Paul Bildt, Aribert Wäscher, Walter Franck, Rosa Valetti, der schon erwähnte Wozzeck von Alban Berg, die 3. Sinfonie von Gustav Mahler unter Erich Kleiber, die Sinfonietta von Leoš Janáček im Beisein des Komponisten, Troilus und Cressida, inszeniert von Heinz Hilpert etc. All die Kammerrevuen am Kurfürstendamm gingen ihm so nahe wie zuvor der Hamburger Orpheus und bildeten den Nährboden für Weigels Tätigkeiten in der Wiener Kleinkunst wenige Jahre später.
Er schrieb weiterhin, „doch es blieb quantitativ und qualitativ unbedeutend. Unbegabt.“7 Eine kleine Blödelei und Aphorismen erschienen in den Lustigen Blättern und im Tagebuch , doch fehlte ihm die Ermutigung weiterzuschreiben. Dies sollte noch einige Jahre andauern, weshalb er über sich selbst bis zum Beginn seiner Tätigkeit in der Wiener Kleinkunst – als 24-Jähriger – in seiner Autobiografie bekannte: „Ich betrieb allerlei Brotloses und sehnte mich sehr danach, dass jemand mir sagen möge, was ich eigentlich tun sollte. Wenn ich je etwas werde, nahm ich mir vor, würde ich begabten jungen Leuten so helfen, wie ich mir damals gewünscht habe, dass mir geholfen werde.“8 Diesen Vorsatz sollte er nach 1945 mit seinem Einsatz für junge österreichische Literaten einlösen, nicht nur mit der Herausgabe der Anthologiebände Stimmen der Gegenwart …
Bei der Literarischen Welt , wo Weigel von 1. April 1927 bis 1. April 1928 arbeitete, schrieb er Adressen und Aufforderungen für Inserate, bearbeitete Einzelbestellungen und betreute das Mahnwesen. Doch seine wichtigste und für ihn lohnendste Aufgabe war es, Besuchern die Tür zu öffnen und sie anzumelden. Wen sah er da nicht alles: Bekannte Literaten der Vorkriegsjahre wie Ernst Toller, Walter Hasenclever, Joachim Ringelnatz, Felix Braun, Jakob Wassermann oder Hugo von Hofmannsthal bekam er neben vielen anderen zu Gesicht. Fast alle von ihnen konnte seine Erinnerung viele Jahre später in seiner Autobiografie mit einer Anekdote verknüpfen.
Wenn er etwas für die Literarische Welt schreiben sollte, Buchbesprechungen, einen Weihnachtsratgeber für Musik oder über einen stürmisch verlaufenen Abend mit Adolf Loos, so war das nicht nur in seinen Augen „unterdurchschnittlich“, denn er war „mit zwanzig noch ein miserabler oder gar kein Schriftsteller“.9
Weigel belegte zwar weiterhin Jusvorlesungen für den Fall, dass er wirklich weiterstudieren sollte, spielte sogar kurzfristig mit dem Gedanken, zur Germanistik zu wechseln, doch sein Schutzengel, „auch sonst nicht faul“, sollte ihn vor der Germanistik bewahren, denn in seinen Augen verhielt sich „Germanistik zu Literatur wie Gynäkologie zu Liebe“.10
Erst im Frühjahr 1928 kehrte Hans Weigel nach über einem Jahr in Berlin nach Wien zurück. Im Zeugnis, das sich im Nachlass in der Wienbibliothek befindet, wurde ihm „gern bestätigt, dass er alle ihm übertragenen Arbeiten und Aufgaben zu unserer vollsten Zufriedenheit durchgeführt hat, aber darüber hinaus, durch eigene Initiative, eigentlich vielmehr ein wertvoller Mitarbeiter für uns war, als eine untergeordnete Hilfskraft“.
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