Meine lieben Eltern!
Der heutige Brief hat ein Geständnis zum Inhalt. Ich habe mich (zum erstenmal auf dieser Tour) verliebt und weiß noch gar nicht, welche Konsequenzen daraus erwachsen werden. Ich hoffe, Ihr werdet mich verstehen, wenn Ihr den Gegenstand meiner Liebe erst gesehen habt, was hoffentlich bald der Fall sein wird. Um nicht lange Worte zu machen, will ich nun nicht mehr hinter’m Berge halten, will Euch ohn’ Umschweife kurz und bündig gestehen, daß der Gegenstand meiner Zuneigung der Ort Sulden ist. […] Ich schlage vor: Ihr kommt als krönender Abschluß des heurigen Sommers hierher auf ca. 1 Woche, von da lässt sich eine prachtvolle Tour für Euch Stilfserjoch – Bormio – St. Catarina (Melodie: Oh Catarina) – Madonna die Campiglio machen […]
Wieder zwei Tage danach verkündete er: „Die Stilfserjochstrasse ist gar nicht mehr wahr, so schön ist sie.“ Am 28. Juli fuhr Hans mit der Zahnradbahn auf einen Aussichtspunkt in Gries, nahe Bozen: Es war „ein herrlicher Tag, prachtvolle Aussicht, was soll ich sagen? Ich bin glücklich!“, nachdem er vorher Bozen besichtigt hatte, das ihm mit jeder Stunde besser gefiel. Über Franzensfeste und Bruneck ging es nach Corvara, von wo er in der letzten Karte dieser Tour am 2. August berichtete, auf die Eltern zu warten, die er immer wieder gebeten hatte, ihn abzuholen, zu kommen, damit er ihnen all das Schöne zeigen könnte.
Am 13. September 1925 begann Hans Weigel Tagebuch zu schreiben.21 Es blieb ein Fragment, beinhaltet am Beginn tägliche Eintragungen, die jedoch bald schon durch längere Schreibpausen unterbrochen werden, besteht insgesamt aus 66 unlinierten DIN-A4-Heftseiten und endet Mitte Mai 1928. Der Grund für dieses Unterfangen, „Gedanken in Geschriebenes umzusetzen“, welches ihm „nicht so leicht“ erschien, war „ein Symptom einer Kinderkrankheit“: die „sogenannte ‚Liebe‘, beziehungsweise ‚unglückliche Liebe‘“ zu einem Fräulein Lisl, die er am 8. August sah. Er begann von ihr zu schwärmen, sah sie auf dem Schulweg mit einer Freundin, sprach einige Male kurz mit ihr, aber duzte sie bewusst nicht. Der Grund für das Unglück: „Ich sehe Sie, spreche mit Ihnen einige Worte und von dem Moment an kenne ich keinen anderen Gedanken als Sie, doch in Ihrer Gegenwart bin ich befangen, ungeschickt und komme beim besten Willen nicht über das Niveau der ‚Sommerbekanntschaft‘ hinaus […]“
Am 7. Oktober beschloss er, Lisl „in seinen Briefen (oder soll ich Bekenntnisse oder schlechthin Aufzeichnungen sagen) Du zu nennen“, denn: „Was ich mir seit mehr als einem Monat ausmalte, was ich herbeisehnte und doch davor bangte, heute wurde es (Dank sei Dir, bewährtes Fatum!) zum Ereignis; auf dem Schulwege sah ich Sie (mit Schwester), wurde herzlich begrüsst und durfte ein Stück begleiten!!!“ Der Grund für das Du kristallisierte sich bei ihm dadurch heraus, dass sich „das Göttliche an Dir etwas gemildert […] hat und dadurch bist Du mir wohl nähergekommen“.
Am 23. Oktober hielt er fest: „Es ist grauenhaft und doch wunderbar, was ‚die Liebe‘ aus einem Menschen machen kann, ich scheine wirklich ein ganz anderer geworden zu sein.“ Er wagte es, ihr einen Brief zu schicken, erhielt einen „Absagebrief“ zurück, der für ihn einen „Sturz aus allen Himmeln“ bedeutete, obwohl er sich eingestand, dass ihr Brief „vielleicht gar nicht bös gemeint“ war. Darunter litt er: „Ich habe Anwandlungen von Unglücklichkeit, dass es ärger nicht mehr vorstellbar ist“, doch träumte er von ihr, ihren „so lieben“ Briefen, was ihn nicht nur „versöhnlicher“ stimmte, sondern ihn „alles milder betrachten“ und ihn auch bei Tag von ihr ein wenig träumen ließ. Ein paar Tage später klagte er emotionsgeladen: „O warum habe ich niemanden auf der Welt, der mir Hänschen sagt, mir dabei sanft die Wange streichelt?“
Beim Schreiben dieses Tagebuches verspürte er Lust zum Schreiben, weshalb er am 8. November festhielt: „Immer wieder fühle [ich] in mir das Gefühl, zum Schriftsteller bestimmt zu sein, speziell in meinen Träumen kommt das zum Ausdruck, wo ich Geschehnisse gleichsam in der Form von Novellen oder Romanen höre (ich kann mich da schon richtig ausdrücken), indem es in mir erzählt und wo ich, wie z. B. heute, wieder Personen und Vorgänge, die in ihrem Wesen ganz außerhalb meines sonstigen Gedanken- und Erlebniskreises stehen, erlebe, die wie ein Roman anmuten. Es ist nicht, als ob der Traum von außen kommt, nein, ich bin halb bewusst daran beteiligt und heute hielt ich mich sozusagen gewaltsam vom Aufwachen zurück, um die Handlung noch zu einem folgerichtigen Ende zu führen. […] Immer wieder habe ich an das Leben anknüpfend, oder ganz von selbst Ideen, aber nachdem sie mich eine Zeitlang beschäftigt haben, entschwinden sie, ich vergesse sie. Nur ganz Weniges habe ich vor dem Vergessen bewahrt, weil ich mir vornahm, es wirklich auszuarbeiten, bin zwar nie über einige Seiten hinausgekommen, aber ich weiß wenigstens, was es war und komme oft in Gedanken darauf zurück.“ Dazu entwarf er das Exposé zu einer Novelle, in der ein junger Mann seiner Angebeteten Tagebuchblätter – ähnlich seinen eigenen – schickt und von ihr Tagebuchblätter, ihre abwartende Liebe gestehend, zurückerhält … Er schrieb die Novelle, schickte sie einer Redaktion, fügte aber gleich hinzu: „[…] aber da ist wohl so gut wie gar keine Aussicht.“
Im Jahresrückblick am 31. Dezember 1925 bekannte Hans Weigel nach dem Überfliegen des bisher im Tagebuch Geschriebenen: „Ich habe es gelesen wie irgend ein besonders kitschiges Buch und muss sagen, es hat mir gefallen, wenn ich ehrlich sein soll. […] Lisl hat nicht aufgehört, der Mittelpunkt meiner Gedanken zu sein.“ Er habe nicht aufgehört, „auf bessere Zeiten zu hoffen“ und ihr ein „leicht gestimmtes Neujahrsgedicht, das unter dem Motto stand: ‚Ärger kann nichts mehr werden, höchstens besser‘“ geschickt.
In der ersten Eintragung des Jahres 1926 hielt Weigel erkennend fest: „Ich möchte wirklich gerne Schriftsteller werden. Wenn ich auch Kaufmann werden soll, trotzdem. Ich mache ca. alle 2 – 3 Wochen dieselbe Entwicklung durch: 1) das Leben freut mich schon gar nicht mehr, 2) Selbstmord, 3) vielleicht den Selbstmord in Romanform festhalten, 4) der Roman wird nichts – abwarten! Wenn man diese Wiederkehr nicht recht deutlich festhalten kann, der Roman spielt eine große Rolle in meinem Leben. Ich sehe Menschen immer als Figuren, sehe alles auf seine Eignung festgehalten zu werden hin an. Ich möchte [mir in dem vorgestellten Roman] momentan so gerne die Leiden eines kleinen Jungen von der Seele schreiben, der vor der Matura steht, Familie hat, liebt etc. etc.; ich glaube, es müßte eine harmlose, schülerhafte aber doch ganz nette Erzählung werden …“
Eine Antwort oder Dank erhielt er auf seinen Neujahrsbrief an Lisl nicht. Er wertete dies, nachdem er sie auf der Straße getroffen hatte, in einem drei Seiten langen Gedicht – datiert mit 13. Jänner – als Ende:
[…] Kaum redet sie und drängt alsbald zum Gehen.
So wußte ich denn, was ich nie gewagt zu ahnen,
Daß es vorbei, mit einemmal vorbei. […]
Für mich gibt es nur eines jetzt: Vergessen […]
Bei einem Kurzbesuch Mitte Februar 1926 in Gösing gegenüber dem niederösterreichischen Ötscher bei „herrlichem Wetter“ und „herrlicher Gegend“, die er voll genoss, glaubte er auf dem besten Wege zu sein, sich von „ihr innerlich loszutrennen. Vielleicht hat dazu auch mein erster Ball (am 11.) etwas beigetragen. Es ist gar nicht so unmöglich, daß ich mit der Zeit noch sogar ganz gerne tanzen werde“. Hans Weigels Stimmung hatte sich gebessert und er stellte „mit Vergnügen“ fest, dass seine „schriftstellerischen Produkte, welcher Art auch immer, nicht so schlecht sind und daß in letzter Zeit eine gesteigerte Produktivität im heiteren Genre eingetreten ist; man findet da ein Faustlibretto, Aphorismen, eine Wagnernachempfindung, ein Drama […] Vielleicht wäre das ein Weg“.
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