Im neunten Jahr konnte es noch einmal richtig eng werden. Zur Not könnten wir unser Auto verkaufen. Und wenn ich öfter die Fahrgemeinschaft für die Fahrten ins Büro wechselte, brauchte ich nicht mal Spritgeld zu zahlen. Da gab es sicherlich noch Einsparpotenzial. Im zehnten Jahr plante ich endlich den Abschluss von Brittas Studium ein und ihren Einstieg ins Arbeitsleben. Britta studierte Sozialwissenschaften mit den Nebenfächern Sport und Freizeitpädagogik. Irgendwann war vielleicht doch damit zu rechnen, dass sie richtiges Geld nach Hause brachte – wobei ich bei dieser Fächerkombination durchaus meine Zweifel hegte.
Am Ende war ich von meinem Plan hellauf begeistert. Nächstes Wochenende konnte also die Suche nach einer Eigentumswohnung beginnen.
Aus dem Bücherschrank nahm ich Brittas Lieblingsbuch zur Hand: Leitfaden für positive Transformationsformeln. Verschwörerisch murmelte ich die Transformationsformel für eine abgeschlossene Ziel-Imagination: „Das habe ich gemacht. Das habe ich gut gemacht. Das habe ich sehr gut gemacht. Ich bin eins mit meinem Plan und was ich will, das schaffe ich auch!”
Kurz vor 14:00 Uhr klingelte Frau Hoppe-Reitemüllers Telefon. Es war Frau Doggenfuß, die Vorzimmerdame des Finanzamt-Vorstehers. Sie solle sofort zum Vorsteher kommen. Ausschließlich Frau Doggenfuß benutzte den Titel „Vorsteher” wenn sie vom Finanzamts-Vorsteher sprach. Für alle anderen war er „Der Kopf”. Nicht nur im übertragenen Sinne war Regierungsdirektor Niemeier der Kopf des Finanzamtes. Er hatte einen beinahe schon als abnorm zu bezeichnenden riesigen Schädel, dessen kantiges Profil durch eine eckige Goldrandbrille noch verstärkt wurde.
Frau Doggenfuß redete stets in einem Befehlston, der unbedingten Gehorsam forderte und jede noch so höfliche Nachfrage scharf unterband. Frau Hoppe-Reitemüller ließ deshalb sofort die gerade angebissene Nussecke fallen und machte sich auf den Weg zum Fahrstuhl.
Auf dem Flur kam ihr Hartmut Schminke mit einer Tasse Kaffee entgegen. Es ist schon auffällig, dachte Frau Hoppe-Reitemüller, immer wenn ich den Schminke sehe, holt er Kaffee oder bringt ihn gerade zur Toilette. Beim Frühstück in der Kantine ist er auch immer der Erste und der Letzte, genau wie sein Vater. Warum sie den Sohn überhaupt eingestellt haben, ist mir ein Rätsel! Bei dem Bockmist, den der alte Schminke verzapft hat. Ab mittags hing Kalle Schminke doch nur noch am Getränkeautomaten im Keller und hat sich eine Pulle nach der anderen genehmigt. Und wenn er abgefüllt war, hörte man das Geschnarche aus seiner Akten-Registratur noch drei Zimmer weiter.
Sie sah dem kleinen, rundlichen Mann hinterher. Etwas weniger Bauch und mehr Hintern würden ihm gut stehen, überlegte sie und dachte an Norberts Hintern. Norberts Hintern gehörte zu Norberts wirklichen Qualitäten. Nicht, dass Frau Hoppe-Reitemüller Norbert nur wegen seines Hinterns geheiratet hätte, aber in dem Sympathiepaket, welches für Norbert den Ausschlag gegeben hatte, war sein Hintern sicherlich kein zu vernachlässigender Posten gewesen. Es hatte auf sie schon immer einen unwiderstehlichen Reiz ausgeübt, ihrem Norbert mit Daumen und Zeigefinger in seinen fleischigen Hintern zu kneifen. Aber seitdem Norbert bei seiner Versicherung seinen Stuhl für die junge Hauptsachbearbeiterin hatte räumen müssen und in den vorzeitigen Ruhestand enthoben worden war, hatte er sich stark verändert. Irgendwann hatte er sich die Kneiferei verbeten. Und als ihr dann doch einmal die Finger ausrutschten, hatte er ihr sogar angedroht, sich von ihr scheiden zu lassen. Und sie wusste, er meinte es damit ernst.
Seitdem ging es mit Norbert immer weiter bergab. Von morgens bis abends saß er nur schlecht gelaunt und lustlos herum. Frau Hoppe-Reitemüller war manchmal froh, dass sie wenigstens tagsüber seinem Anblick entfliehen konnte. Schade nur, dass sich im Finanzamt nicht ihr Telefon abstellen ließ. Mindestens viermal am Tag rief er an, um sie anzuschnauzen oder Bestellungen für den Supermarkt aufzugeben.
Der Weg zum Kopf führte über das Zimmer von Frau Doggenfuß. Es gab natürlich auch einen direkten Zugang zum Büro des Kopfes. Aber die Klinke von Zimmer Nr. 333 in die Hand zu nehmen, wäre eine genauso unmögliche Vorstellung gewesen, wie an der Panzersicherung im Keller herumzufummeln.
Ohne Frau Hoppe-Reitemüller eines Blickes zu würdigen, meldete Frau Doggenfuß sie telefonisch im Vorsteherzimmer an. Nicht-Personen wie der Hausmeister, die Putzfrau und Amtsinspektorinnen aus dem mittleren Dienst wurden von Frau Doggenfuß nur dann persönlich angesprochen, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Mit einem Blick über die Halbrandbrille deutete sie an, dass nun der Weg ins Allerheiligste für Frau Hoppe-Reitemüller offen stand. Ihr Herz begann zu rasen.
In seinem Büro wartete der Kopf hinter seinem drei Quadratmeter großen Schreibtisch. Der Schreibtisch war lediglich mit einem kleinen Notizblock und einem Telefon bestückt. Vor dem Schreibtisch saß ihr Chef, Herr Axthammer. Frau Hoppe-Reitemüller wurde es noch mulmiger zumute. Herr Axthammer war nämlich nicht nur ihr Sachgebietsleiter, sondern zudem auch der Personalratsvorsitzende des Finanzamtes. Nervös fuhr sie sich durch ihr kurzes graues Haar und wie ein Film spulten sich vor ihren Augen die Sünden der vergangenen Tage ab: Volle zwei Stunden hatte sie mit Sybille in Berlin telefoniert ohne die „drei” für Privatgespräche vorweg zu wählen. Dann hatte sie die EDV-Prüfhinweise für die eingegebenen Steuererklärungen ausnahmslos vernichtet, weil sie mit ihnen nichts anzufangen wusste. Schweiß schoss ihr wie von Einspritzdüsen in die Achseln ihrer Bluse, als ihr einfiel, dass sie gerade gestern erst wieder im Internet unter www.knackigehintern.de unermüdlich gesurft hatte. Dabei wurde in der letzten Amtsverfügung noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Nutzung des Internets nur zu dienstlichen Zwecken gestattet sei und ein Vergehen disziplinarisch verfolgt würde. Es würde schwer werden, einen dienstlichen Bezug herzustellen. Oder war jemandem aufgefallen, dass sie fünf Locher aus der Materialausgabe herausgeschmuggelt hatte? Vielleicht Betriebsprüfer Glockemüller, so richtig war dem auch nicht zu trauen.
Der Kopf gab ihr ein Zeichen, sich ihm zu nähern. Er erhob sich nie, um seine Besucher zu begrüßen. Seine Körpergröße war nur öffentlichen Geheimnisträgern und seiner Mutter bekannt. Frau Stöhr hatte einmal behauptet, er wäre keine 1,50 m. Sie wüsste das ganz genau, weil er zu ihrem 25-jährigen Dienstjubiläum in ihrem Büro gewesen sei und nicht einmal so groß wie der Aktenbock in ihrem Zimmer gewesen wäre. Aktenbock A 102 C hätte aber garantiert eine normierte Höhe von 1,50 m.
Frau Hoppe-Reitemüllers Nervosität legte sich ein wenig, als ihr der Kopf die Hand reichte. Er hatte tellergroße, warme fleischige Hände, die bei einem Händedruck ein Gefühl der Geborgenheit vermittelten. Seine Stimme war tief und voll und seine kleinen ewig lächelnden Augen hinter dem kantigen Goldrahmen machten es einem so leicht, Vertrauliches aus dem Kollegenkreis so ganz nebenbei auszuplaudern.
Bei so viel Väterlichkeit war es ihm überhaupt nicht zuzutrauen, dass er auch seine Todesurteile fällte. Da war zum Beispiel der junge Steuersekretär, der im Finanzamt die Steuererklärungen seiner „Privatkunden” selbst bearbeitet und ihnen durch großzügige Ermessensentscheidungen zu üppigen Steuererstattungen verholfen hatte. Kaum zu glauben, dass so etwas wirklich vorkam!
Als Frau Hoppe-Reitemüller davon erfuhr, war ihr zuerst Hartmut Schminke in den Sinn gekommen. Schminke wäre der Einzige gewesen, dem sie das zugetraut hätte. Aber als dieser ihr einige Tage später, nachdem das Urteil gefällt worden war, mit seiner Kaffeetasse und diesem unverwechselbar idiotischen „Mahlzeit”-Grinsen entgegengekommen war, hatte sie gewusst, dass er es nicht gewesen sein konnte. Besagter Kollege war nämlich fristlos entlassen und disziplinarisch belangt worden. Wahrscheinlich arbeitete er jetzt als Handlanger Steuerberater Pfannengaul zu, der dafür bekannt war, seine Arbeit an gestrandete Existenzen aus der Gattung der steuerberatenden Berufe zu delegieren, während er sich auf dem Golfplatz vergnügte.
Читать дальше