Am Morgen waren viele Leute vor dem Haus. Matti sah sie von seinem Kinderzimmerfenster aus. Auf den unbefestigten Straßenrändern der Dorfstraße standen unzählige Autos. Ständig versuchten Fremde, mit Vater oder Mutter zu sprechen. Sie wollten Berichte für die Zeitung oder für das Fernsehen. Einige hatten Matti heimlich fotografiert.
Warum war Kevin nur verschwunden?
Vorsichtig steckte Matti den Kopf aus dem Zelt. Stimmen waren zu hören. Als er nach oben schaute, blickte er in unbekannte Gesichter. Fremde Leute schauten Matti an.
»Guten Morgen«, flüsterte der Junge und wischte sich die Tränen von den Wangen. Einige der Erwachsenen nickten. Alle hatten Uniformen an.
»Okay!«, rief ein Mann. »Von hier aus verteilen wir uns. Es wird in Linie gesucht. Schaut hinter jeden Strauch, unter jede Wurzel. Alles, was nicht in den Wald gehört, wird mitgenommen und ausgewertet. Auf mein Signal sammeln wir uns hier am Ausgangsort. Wird etwas Ungewöhnliches gefunden, will ich sofort informiert werden. – Und Abmarsch!«
Matti beobachtete, dass sich die Leute daran machten, den Wald abzusuchen. Langsam entfernten sie sich von seinem Zelt.
Nur der Mann, der gerade gesprochen hatte, setzte sich ins Gras, gleich neben Matti, der noch halb im Zelt steckte, und zündete sich in aller Ruhe eine Zigarette an.
»Guten Morgen«, meinte er nach einem Weilchen und blies Qualm aus seinem Mund.
Matti kroch aus dem Zelt und setzte sich neben den Mann. »Sind Sie von der Armee?«, fragte er und sah den Mann kontrollierend an.
»Ja. Die Leute hier sind alle vom Bund. Sie helfen mir. – Wie heißt du?«
»Matti Semmer.«
»Und Kevin Franke ist dein Freund?«
»Mein bester Freund. – Werden Sie ihn finden? – Ich will, dass Kevin wieder hier ist!«
»Das wollen wir alle, Matti. Und wir wollen, dass er gesund und munter ist. Verstehst du?«
»Hm. – Meinen Sie, Kevin kann was passiert sein?«
Der Mann rauchte stumm weiter.
Matti sah ihn lange an. Dann erhob sich der Junge und ging zum Haus zurück. Niemand kümmerte sich um ihn, deshalb lief Matti auf die Straße und sah sich um. Noch mehr Autos hatten sich versammelt, am Ortseingang standen Armeelaster. Matti schlich dahin, träumte, wäre fast gegen einen älteren, kräftigen Mann gestoßen, neben dem eine Frau lief.
»Na, junger Mann.«
Matti schaute hinauf. »Guten Morgen«, sagte der Junge.
Jockey kam angelaufen und kroch durch die Beine des Jungen. »Jockey, lass das. – Haben Sie die Abkürzung gefunden?«
Der Mann lächelte. »Ihr habt es uns richtig gut erklärt. – Du bist ein kluger Kopf, Matti. Erinnerst du dich an meinen Namen? Ich bin Holger Hinrich. – Wir haben gehört, was mit Kevin passiert ist.«
Matti nickte. »Sie suchen jetzt den Wald ab«, flüsterte er. »Die von der Armee.«
»Und …«, der Mann ging in die Hocke, »meinst du, dass sie deinen Freund dort finden? – Ich habe gerade mit Michael Sörbig gesprochen. Kennst du den?«
»Natürlich kenn ich den Michael. – Ist er zurück?«
»Er will helfen, deinen Kevin zu finden.«
Matti schaute sich um. »Ich glaube nicht, dass Kevin sich im Wald versteckt. Niemals einen ganzen Tag und eine ganze Nacht.«
»Was denkst du dann, Matti?«
»Dass er nach Hause gegangen ist, am Sonntag, ganz zeitig. Kevin hatte Angst, weil seine Mutti nicht wusste, dass er bei mir geschlafen hat. Die wusste das aber doch. Von meiner Mutti.«
»Sag mal, hat Kevin denn was mitgehabt? Einen Rucksack oder so?« Kriminaloberkommissar Hinrich griff nach einer Hand des Jungen, spürte, dass sie ganz kalt war.
Matti schüttelte den Kopf. Aber er dachte nach. Dann berichtigte er sich selbst. »Doch. Kevin hatte eine gelbe Tüte für die Badehose. Die lag nicht mehr im Zelt. Er hat sie gestern Abend in mein Zelt geworfen. Das weiß ich genau. Dann sind wir in den Wald gegangen. Das war gruselig.«
Der Kommissar holte seinen Notizblock heraus, machte kurze Notizen. »Weißt du, Matti, das bleibt aber unser großes Geheimnis, es darf niemand wissen, denn so erfahre ich vielleicht Dinge, die manche Leute der Polizei nicht erzählen wollen: Ich bin aus Leipzig und arbeite bei der Kriminalpolizei. Ich habe schon viele Kinder wieder gefunden.« Hinrich zeigte dem Jungen seine Polizeimarke.
Matti sah den Mann mit großen Augen an.
»Und manchmal waren es ganz kleine, unwichtige Dinge, die uns auf die richtige Spur geführt haben.« »So wie die gelbe Tüte?«
»Wie die gelbe Tüte. – Was meinst du, kann es sein, dass jemand Kevin was Böses antun will? Du kennst Kevin viel besser als ich. Gibt es jemanden, der Kevin eins auswischen will?« Hinrich rieb die Hand des Jungen.
Matti zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht.«
»So, so. Du glaubst es nicht. – Hör zu, Matti, wenn dir etwas einfällt, dass es jemanden geben könnte, der was mit der Sache zu tun haben könnte, irgendetwas, was dir nicht ganz geheuer vorkommt, auch die kleinsten Dinge, sag es mir einfach. – Okay?«
»Hm, okay.« Matti lächelte.
»Holger …« Hinrichs Frau war es nicht wohl zumute, denn zwei Männer näherten sich.
»Guten Tag«, sagte der eine. »Was wollen Sie von dem Jungen? Sind Sie von der Presse?«
Hinrich begab sich wieder in die Senkrechte. »Seh’ ich so aus? – Angenehm, Holger Hinrich, derzeit Urlauber von Beruf. – Und das ist meine Frau.«
»Was wollte dieser Mann von dir?« Kommissar Feldmüller schaute Matti fragend an.
»Er … er hat mich nach dem Weg gefragt.«
»Nach dem Weg? – Du solltest besser zu Hause sein, Matti. – Und lass dich nicht mit fremden Männern ein.« Feldmüllers Stimme klang fordernd und belehrend.
Matti drehte sich um. »Sie sind doch auch ein Fremder«, rief er und lief zurück zu seinem Elternhaus.
»Wir wohnen im Seeblick, Matti.« Hinrich winkte dem Jungen hinterher. – »Einen Superumgang haben Sie mit Kindern.« Vorwurfsvoll richtete sich Hinrichs Stimme an Feldmüller. »Haben Sie eine Ahnung, was der Junge gerade durchmacht?«
Der Schweriner sah den Leipziger kontrollierend an. »Was mischen Sie sich ein? Es bringt mir nichts, wenn wir am Ende des Tages nach zwei Kindern suchen, Herr Hinrich. – Was wollten Sie von dem Jungen? – Ich leite hier die Ermittlungen, nicht Sie. Ich bin nämlich von der Kripo.«
»Ach …« Hinrich biss sich auf die Zunge. »… sind Sie das wirklich? Haben Sie auch einen Namen?«
»Feldmüller. – Und nun verschwinden Sie besser.«
Hinrich grinste. Jockey, der Hund, der einen heruntergekommenen Eindruck machte, hatte sich auf Hinrichs Schuh gelegt und kratzte sich am Hals. »Sie sehen ja, ich kann gerade nicht weg hier. – Sagen wir … Ich bin Hobbykriminalist. Ich weiß, Kommissare wie Sie, die mögen das nicht hören. Doch häufig sind die Untersuchungsmethoden der Kripo etwas eingefahren. – Haben Sie schon nach der gelben Plastiktüte gesucht?«
»Was für eine Plastiktüte? – Verarschen Sie mich?«
»Das liegt mir fern, Herr Feldmüller. Es geht um das Leben eines Kindes. Glauben Sie mir, in solchen Fällen verbietet sich mir jede Art von Verarschung. – Es sollte Kevins Badehose in der gelben Tüte sein. – Und warum wurden die Straßenränder nicht abgesperrt? – Nehmen Sie an, Kevin wollte nach Hause, dann musste er genau hier lang laufen. Doch da, wo seine Spuren eventuell sein könnten, stehen die Fahrzeuge der Polizei und der Medienvertreter.«
Feldmüller lief rot an. Ohne ein weiteres Wort machte er kehrt und wandte sich dem »Seeblick« zu, in dem die nächste Lagebesprechung stattfinden sollte. Anschließend stand eine Pressekonferenz auf dem Plan. Unzählige Medienvertreter lungerten vor dem Gasthaus herum, selbst die Öffentlich-Rechtlichen Sender waren vor Ort.
Der zweite Mann, Stellvertreter Boger, folgte ihm, nachdem er einen prüfenden Blick auf den eigenen Mercedes geworfen hatte. Das S-Klasse-Schiff passte nicht so recht zum Straßenrand von Zellerau.
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