»Ganz schön was los, heute Morgen, findest du nicht?«
Susan überraschte Juliet, als sie sich so plötzlich neben ihr auf der Bank niederließ.
»Ja, das stimmt« , antwortete Juliet. »Die Klinik zieht sogar Leute aus Philadelphia und Boston an. Und letzte Woche kamen zwei Paare aus Georgia. Diese Osteopathie verbreitet sich wirklich wie Feuer in der Prärie.«
»Und ob!« , pflichtete ihr Susan bei. »Und das aus gutem Grund. In der osteopathischen Klinik machen sie unglaublich gute Arbeit. Die Bauten schießen geradezu in den Himmel und diese neue Schule bringt noch mehr Hilfe für Dr. Still hervor. Die ganze Sache erscheint einem wie ein Wunder, über das Gott seine Hand hält.«
»Hast du übrigens schon das neue Spiel gesehen, das sie jetzt spielen?« , fragte sie eifrig. ›Krücken zu verkaufen‹. Was sie sagen, ist wahr! Bei der Klinik gibt es einen Haufen Krücken zu kaufen. Man kann sie als Tomatenstangen benutzen. Sie werden von keinem ihrer ursprünglichen Besitzer mehr benötigt. Ja, ja, die Osteopathie und die American School of Osteopathy haben ganz sicher ihre Bestimmung und sind genau richtig hier, im kleinen Kirksville. Als wir 1882 hierhergezogen sind, gab es im Ort vielleicht 5.000 Seelen. Jetzt müssen es wohl viermal so viele sein, womöglich sogar noch mehr.«
»Ich erinnere mich« , fuhr sie nach einer kleinen Pause fort, »dass Mutter Ivie von diesem Burschen erzählte, den sie vor ein paar Jahren am Hotel aufgegabelt hat. Diesen Wanderarzt. Sohn eines Wanderpredigers. Sah nicht so aus, als würde er sich jemals irgendwo niederlassen und etwas aus sich machen. Er verschwand dann, glaube ich, für eine Weile nach Baldwin, wo wohl seine Frau und seine Kinder noch lebten, oder um irgendwo im Osten von Missouri zu behandeln. Damals erzählten sich die Leute, er habe seine eigene Methode und verwende keine Arzneimittel oder Elixiere. Er selbst sagte, er behandle, indem er den Körper veranlasse, so zu arbeiten, wie er nach dem Willen seines Schöpfers arbeiten soll, und dann könne er für sich selbst sorgen. Ich glaub, dieser Bursche war unser Dr. Still.«
Nachdenklich lehnte Susan sich zurück: »Kennst Du die Geschichte von dem Trinker, den er mal geheilt hat? Es war drüben in Macon. Er sprach den Mann auf der Straße an, vor dem Saloon, griff ihm an den Bauch und begann, seine Innereien durch Drehen und Kneten zu bearbeiten. Er schaute dem Burschen direkt in die Augen und sagte ihm, dass das Trinken ihn von nun an fürchterlich krank machen, ihn vielleicht sogar umbringen würde. Du weißt ja, Dr. Still hat einen sehr bestimmenden Ton; man sagt, das komme noch von seiner Zeit in der Armee. Ich glaub aber eher, dass er einfach Kraft in sich hat. Und stell dir vor: Dieser Mann, dieser Trinker, soll seitdem nie mehr auch nur einen Tropfen Schnaps angerührt haben. Ich habe gehört, dass Dr. Still die gleiche Behandlung bei einigen hier in Kirksville durchgeführt hat. Der Herr weiß, wir brauchen mehr Abstinenz. Das Trinken ruiniert so viele. Und es fängt damit an, dass sie es als Schmerzmittel nehmen, als hätten sie keine andere Wahl. Auf diese Weise geraten so viele da hinein.«
Juliet lachte leise: »Ja, ja, dieser Still vollbringt schon Bemerkenswertes. Wenn ich nur an Shermans rechten Arm denke. Den konnte er ja kaum noch bewegen. Aber nach dem, was sie in der Klinik für ihn getan haben, wird er jetzt wieder kräftiger und er kann ihn wieder zum Arbeiten benutzen. Dann werden wir Gott sei Dank auch bald unsere Schulden begleichen können. War schon ihr Geld wert, die Behandlung.« –
»Aha« , fuhr sie mit einem Blick in Susans Korb fort, »das ist also alles, was du heute eingekauft hast, Brot und Eier? Nachdem du so lange im Laden warst, dachte ich schon, du lässt sie eine ganze Kuh für dich schlachten.«
»Na ja, du weißt doch, wie das ist« , erwiderte Susan etwas verlegen. »Ich bin der Witwe Stern begegnet und die redet doch so gern. Es tut ihr gut, weißt du, sie ist so allein, seit Jesse von uns gegangen ist. Und sie hat so viel durchgemacht. Wir sollten sie mal besuchen, vielleicht mal irgendwann nachmittags. Vielleicht bittet sie uns zum Tee rein. Es ist schon so lange her, dass ich Teetrinken war. Sie ist so anständig. Gut möglich, dass sie das freut. Ich werde sie beim Gottesdienst am Sonntag sehen; vielleicht kann ich andeuten, dass wir das gerne täten. Was meinst Du?«
»Einverstanden« , stimmte Juliet zu, »aber lass uns jetzt gehen. Zuhause ist jemand, der sein Essen erwartet, und ich weiß noch gar nicht, was ich kochen soll.«
»Guten Morgen, die Damen!« Bob Bowman lächelte unter seiner breiten Hutkrempe, als sie vor Bill Parkers Rasiergeschäft stehen blieben.
»Guten Morgen Bob. Wie geht es Sally?« , fragte Juliet.
»Sie hat sich prächtig erholt; sie wird wahrscheinlich am Sonntag in die Kirche gehen.«
»Grüßt du sie bitte von uns?«
»Ja bitte mach das für uns« , fügte Susan hinzu.
Lange schaute Bob, während er darauf wartete, nach Fred Weber auf dem Friseurstuhl Platz nehmen zu können, hinüber zu dem geschäftigen Treiben am Bahnhof.
»Kaum zu glauben« , sagte er, »wie sich diese Stadt in den letzten zehn Jahren herausgemacht ist. Und das alles wegen diesem Still und der Osteopathie. Schaut euch mal den Bahnhof an, die Hotels und die Mietställe. Mrs. Stow sagt, die Osteopathie breite sich aus wie Feuer in der Prärie. Ich glaube, das trifft es sehr gut.«
Die Anwesenden nickten beifällig.
»Ich hoffe nur, dass es wie Feuer einem guten Zweck dient und dass sich niemand verbrennt« , sagte Fred.
Drüben sah Andrew Still in diesem Moment auf seine Uhr. Er stellte fest, dass es Zeit für sein Mittagessen mit Mary Elvira war und machte sich auf den Weg nach Hause. Seine Frau traf währenddessen letzte Vorkehrungen für die Mahlzeit.
»Der Kuchen ist genügend ausgekühlt, man kann ihn essen. Das Brot für den Morgen sieht gut aus. Schau zu, dass du das Hühnchen fertigbrätst, damit das Essen bereit ist, wenn Pa kommt.«
Blanche, die eben den Tisch deckte, nickte. Stolz sah Mary sich in der Küche um. Sie fühlte sich so glücklich. Nach Jahren voller Entbehrungen und Schwierigkeiten war aus Kirksville ein außergewöhnlicher Ort geworden. Ihr Mann hatte etwas aus sich gemacht, er war inzwischen anerkannt, hatte seinen Platz gefunden. Endlich ernteten sie nun den Lohn in Form stabiler Lebensumstände und eines bescheidenen Komforts. Besonders stolz war sie auf ihre Kinder, die auch an der Arbeit des Vaters teilhatten. Harry, Hermann, Charles und Blanche. Sie trauerte um Fred, der vor vier Jahren von ihnen gegangen war – was für ein tragischer Unfall, der eine so strahlend junge und liebenswerte Person aus dem Leben gerissen hatte!

ABB. 07: FAMILIE STILL, CA. 1903.
Obere Reihe (v. l. n. r): Blanche Still, »Mutter« Still, A. T. Still,
Untere Reihe, (v. l. n. r): Herman Still, Harry Still, Charles Still

ABB. 08: BLANCHE STILL, CA. 1890
Die junge Blanche bereitete ihr wirklich Freude. Sie war eine so große Hilfe – manchmal allerdings auch ein Sorgenkind. Mutter Still geriet in einen wahren Konflikt, wenn sie daran dachte, dass sich ihre Tochter verheiraten und sie mit ihr dann eine Kameradin, Helferin und Geschäftspartnerin verlieren würde. Blanche war heiter, aber ein Schlingel und eine eigenwillige Persönlichkeit. Und ihre Mutter fragte sich besorgt, ob sie wohl jemals eine Beziehung mit dem richtigen Mann eingehen würde.
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