Das alltägliche Leben auf der Farm ging weiter. Nach ein paar Tagen, so erinnerte sich der ältere Still, kehrte sein Vater zurück. Unrasiert, staubig und müde von der Reise, doch wie immer fröhlich.
In seiner Rückschau rief sich der Doktor in Erinnerung, dass die neuen Siedler die Konflikte aus dem Osten mitgebracht hatten. Und diese Konflikte verstärkten sich dann noch, als die tapferen Seelen, verrückt gemacht vom Abenteuer der Landnahme, ihre Ideen ins Extreme trieben. Das Grenzland vermittelte jedem das elektrisierende Gefühl, die Dinge nach eigenem Gutdünken handhaben zu können, da draußen in der Freiheit unter dem grenzenlosen Himmel der Prärie. Einige wollten Freiheit für alle, andere wollten die Sklaverei beibehalten. Und die Adventisten dachten sowieso, die Welt würde bald untergehen. Etwa im Jahr 1841 entzweiten sich die Methodisten über politische und ethische Fragen der Sklaverei.
Die Weißen hatten die Sklaverei aber nicht erfunden. Die Cherokees und die meisten anderen Indianerstämme hielten Sklaven als Teil der Kriegsbeute. So war es, wie Still gehört hatte, auch unter den Schwarzen in Afrika gewesen. Die Weißen zogen ihren Nutzen aus einer vermeintlich guten Sache – gut in pragmatischer, nicht in ethischer Hinsicht. Es bedeutete mehr Produktivität und ökonomische Vorteile für die Sklavenbesitzer. Sie drehten an der Profitschraube. »Söhne des Ham, des schändlichen Sohns Noahs« , nannten die anderen methodistischen Prediger sie. Habgier in jeder Hinsicht war jedenfalls das Motiv.
Der Alte Doktor sah ihn vor sich, seinen Vater Abraham, der stets ein standhafter Slavereigegner geblieben war und sich dabei auf seine Interpretation der Heiligen Schrift und der methodistischen sozialen Lehren berufen hatte. Und so war seine Familie inmitten all dieser Kontroversen gefangen gewesen.
Still erinnerte sich nun lebhaft an eine nächtliche Unterhaltung, als die Familie im Licht der Lampe aß. Wie mager, drahtig und müde war ihm damals sein Vater erschienen! Er war eben von einer Versammlung zurückgekehrt und diskutierte mit seiner Frau darüber, wie man die Kirchen Missouris wieder vereinigen könnte.
»Wie wird das ausgehen, Pa?«
»Weiß ich nicht, Sohn. Das ist nicht die Frage. Uns interessiert nicht, wer gewinnen wird, wir sind auf der Seite des Gewinners, auf Gottes Seite. Es ist nur eine Frage der Zeit. Wir müssen nur der Führung folgen, der Führung durch unser Gewissen und unsere Überzeugung. Wir leben nicht, um zu sehen, worauf es hinausläuft. Wir tun unbeirrt die Arbeit, zu der wir berufen sind. Das ist die Natur der Dinge.«
Ja, so hatte er damals gesprochen, sein Vater. Für einen Moment kehrten die Gedanken des Alten Doktors nun zurück zu seinem jetzigen Leben in Kirksville und zu all der Mühe, deren es bedurfte, um neue Ideen in eine Institution einzubringen – und das manchmal sogar, obgleich es gänzlich chancenlos erschien. In Abraham hatte ein Feuer gebrannt, das durch Widrigkeiten offenbar noch geschürt wurde. Und er, sein Sohn, hatte sie von ihm erworben, diese Kampfbereitschaft, diese Hartnäckigkeit, einen Funken Wahrheit aufzuspüren und das Feuer brennen zu lassen.
Abraham dürfte 56 Jahre alt gewesen sein, als er und seine Frau Martha 1852 in der Wakarusa-Mission, in der Nähe von Lawrence, Kansas, eintrafen, um noch einmal von vorne anzufangen. Der Großteil der Tallequah Indian Conference , fast dreitausend Mann, hatte sich der methodistischen episkopalen Kirche im Süden und damit den Befürwortern der Sklaverei angeschlossen. Nur eine Handvoll, ganze 21 Seelen, war übrig geblieben. Der Umzug war überschattet vom gleichzeitigen Brodeln der Kriegsvorbereitungen.
Angesichts der Unwägbarkeiten dieses Umzugs, ließen die Eltern Still ihre inzwischen erwachsenen Kinder mit der Möglichkeit, ihnen nachzufolgen, in Missouri zurück. Als älteres Ehepaar stellten sie sich allein dem neuen Abenteuer in einem gottverlassenen, wilden Land. Völkervertreibung, Hickhack um freies Land sowie die ungeklärte Sklaverei-Frage und die damit verbundene drohende Spaltung des Landes bildeten ein brandgefährliches Umfeld.
Für Martha waren die neuen Umstände eine ganz besondere Herausforderung. Der Indianerstamm, um den sie sich kümmern sollten, war nämlich derselbe, dessen Vorfahren drei Generationen zuvor viele ihrer Familienmitglieder massakriert hatten, als diese versuchten, sich in Abb’s Valley, Virginia, niederzulassen, und die ihren Vater, James Moore, in die Sklaverei verkauft hatten. Auch ihre Tanten Mary und Martha, ihre Namensvetterin, waren gefangen und verkauft worden. Die anderen Mitglieder der Familie, Marthas Großvater eingeschlossen, mussten mit ihrem Leben bezahlen oder wurden skalpiert, als die Indianer angesichts der stetig zunehmenden Zahl weißer Siedler versuchten, ihr territoriales Vorrecht zu schützen.
Drews Ma war damals der Überzeugung gewesen, dass der methodistische Kirchenrat sie dorthin gesandt hatte, um sie endgültig loszuwerden. Denn je mehr Kritik die Älteren des Rates an seinem abolitionistischen Standpunkt übten, desto entschlossener und unverblümter war ihnen Abraham entgegengetreten.
»Widrigkeiten« , pflegte er zu sagen, »bedeuten nicht immer, dass du dich falsch entschieden hast. Manchmal bedeuten sie auch, dass du dich genau richtig entschieden hast.«
Auf jeden Fall hatte ihm sein Beharren auf seinen Prinzipien Ungemach beschert, zu dem auch Schläge und Todesdrohungen gehörten.
Vor dem Bahnhof von Kirksville, beim Wabash-Zugdepot, saß Juliet Stow unter einer ausladenden Eiche und wartete auf ihre Freundin Susan. Die beiden Frauen waren zusammen zum Markt gegangen, um eigentlich nur ein paar Kleinigkeiten zu besorgen. In Doneghy Brothers Lebensmittelgeschäft hatte Susan aber dann eine Bekannte getroffen und war stehen geblieben, um ein bisschen Klatsch auszutauschen. Für Juliet war das in Ordnung. Es war schön, eine Entschuldigung für eine Pause zu haben, sich hinzusetzen und dem fließenden Leben an einem heiteren Morgen zuzuschauen.
Vor etwa 20 Minuten war ein Zug eingetroffen und immer noch herrschte auf dem Bahnsteig die emsige Betriebsamkeit des Ankommens und Abreisens. Man fiel sich zur Begrüßung oder zum Abschied in die Arme, kontrollierte die mitgebrachten Koffer, richtete sich auf den Plätzen ein. Gepäckträger wurden beladen, der Lokführer schlürfte an seinem Kaffee und diskutierte die Neuigkeiten mit dem Bahnhofsvorsteher. Viele der aus St. Louis oder dem Osten angereisten Passagiere trugen elegante städtische Kleidung. Die meisten waren gekommen, um das Versprechen jener neuen Heilmethode, der Osteopathie, auf die Probe zu stellen. Einige gingen an Stöcken oder auf Krücken, aber sie alle, Jung und Alt, waren sichtlich voller Enthusiasmus und Hoffnung. Wagen des Pool Hotels lieferten die Fracht für die Pacific Express Company und nahmen Gäste und andere Besucher auf.
Juliet bemerkte mit einem Mal, wie rasch diese Stadt sich veränderte. Sie und Sherman, mittlerweile in ihren Fünfzigern, lebten schon seit etwa 5 Jahren hier, weil ihnen der Alltag auf dem Land zu beschwerlich geworden war. Sie waren einst aus Illinois gekommen, um neues Land zu besiedeln, hatten gerodet, Vieh gezüchtet, gepflügt und gepflanzt. Wie anstrengend war doch die andauernde Schufterei vom frühen Morgengrauen bis Sonnenuntergang gewesen. Tag für Tag musste Juliet Eier einsammeln, das Vieh füttern, backen, drei Mahlzeiten für eine sechsköpfige Familie kochen, saubermachen und tausend andere Dinge erledigen. Dann waren da noch das Waschen, das Jäten und Hacken, das Nähen und Flicken, das Butterrühren und Einkaufen.
Auch Sherman hatte sich in seiner Arbeit aufgerieben. Mehrmals hatte er sich zudem bei einem Sturz vom Pferd die rechte Schulter ausgekugelt. Juliet widersprach ihm daher nicht, als er beschloss, in der Stadt einen Mietstall zu eröffnen, der hauptsächlich von Angestellten geführt werden sollte. Arbeit blieb Arbeit, doch die Stadt bot zumindest ein paar Annehmlichkeiten – und die Gesellschaft anderer Frauen, die sie dort draußen so sehr vermisst hatte. Auch viele andere zogen in die Stadt. Die Wirtschaft gedieh mit den Veränderungen.
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