Drúdir schob eine schwere Eichentür auf. Die filigranen Verzierungen an der Messingklinke und die eckigen Knotenmuster, die in das Holz geschnitten waren, kündeten von vergangener Pracht, aber die offensichtliche Kunstfertigkeit ihres Schöpfers hatte Drúdir nie so beeindruckt wie das, was dahinter lag.
Kaum hatte er die Bibliothek betreten, umfingen ihn samtige Stille und der Geruch unzähliger Bücher. Zu beiden Seiten des langgestreckten Raumes erhoben sich deckenhohe Regale, auf denen sich ein ledergebundener Buchrücken an den anderen reihte. Eine verschnörkelte Wendeltreppe führte auf den Dachboden, wo sich die Regalreihen, wie er wusste, fortsetzten, auch wenn viele von ihnen mittlerweile leer waren. Zwischen den Regalen standen mit Schnitzereien verzierte Lesepulte. Zwei von ihnen wurden von Käfigen aus kunstvoll ineinander verschlungenen Eisenstangen vom Rest der Bibliothek abgeschnitten – hier hatten sich jene einschließen müssen, die die wertvollsten und gefährlichsten Werke studiert hatten. Bücher, die im allgemeinen Chaos nach den Magierkriegen gestohlen worden waren. Wisdrin hatte diesen Verlust nie so ganz verwunden.
Drúdir stellte sich vor, wie es hier einst zugegangen sein musste: Gelehrte aus allen Ecken der heutigen Union, die sich gedämpften Schrittes durch den Lesesaal bewegten und mit gesenkten Stimmen diskutierten. Studenten und Novizen des Tempels, die ehrfürchtig an den Regalen aufblickten oder sich an den Lesepulten Notizen machten, Bibliothekare, die mit Argusaugen über die Schätze der Bibliothek wachten, Zwerge, die von langen Reisen zurückkehrten, um der Sammlung weitere, wertvolle Bände hinzuzufügen, die gelesen und diskutiert werden wollten …
Fast schon glaubte er, die Dielen unter behutsamen Schritten knarren und vielstimmiges Wispern erklingen zu hören. Goldener Glanz schimmerte am Rand seines Sichtfelds und beinahe instinktiv wechselte er in seine magische Sicht.
Was er sah, raubte ihm den Atem. Es war nicht das schreckliche Versprechen der Totenscherben, nicht der beinahe unerträgliche Glanz und das unstete Flackern der Magieströme der Stadt. Die Magie, die der Bibliothek innewohnte, war wunderschön in ihrer Subtilität. Kaum sichtbare Bänder verbanden Bücher, die einander beeinflusst hatten, zu einem feinen, schimmernden Netzwerk. Wieder andere Bände pulsierten in dem Rhythmus, in dem wissbegierige Finger einst ihre Seiten umgeblättert hatten. Natürlich. All der Aufwand, der in jedes einzelne Buch geflossen war, hatte Magie darin konzentriert, die wiederum mit den Mustern interagierte, die die Gedanken und Gefühle der Leser woben. Drúdir wäre der Letzte gewesen, der Büchern ihre ganz eigene Magie absprach, aber obwohl es ihm im Nachhinein betrachtet als vollkommen logisch erschien, hätte er nie gedacht, dass dies so wörtlich zu verstehen war.
„Ich hatte mich schon gefragt, wann du es auch sehen wirst“, sagte Wisdrin hinter ihm. Drúdir wirbelte herum – und fragte sich, was ihn mehr überraschte: Das Geschick, mit dem der ältere Zwerg knarrende Dielen vermieden hatte (ein Kunststück auf diesem Boden), die Offenbarung, die sich in seinen Worten verbarg oder der sanfte Ausdruck auf seinem Gesicht.
„Auch?“
Stumm und ohne Eile schälte Wisdrin sich aus seinem Jackett, das er akribisch faltete und auf einem Lesepult ablegte. Dann öffnete er seine Manschettenknöpfe und schob die Ärmel seines Hemdes bis weit hinter die Ellenbogen zurück. Seine Unterarme waren nahezu haarlos und blass wie die Haut der unterirdischen Zwerge von einst. Umso deutlicher traten die geschwungenen Ornamente und winzigen Runen hervor, die man ihm mit dunkler Tinte unter die Haut gestochen hatte.
„Du warst … bist ein Praktizierender des Tempels?“
Wisdrin nickte. „Warst. Ich habe immer nur gerade genug Magie beherrscht, um stets das richtige Buch zu finden und das eine oder andere Experiment durchzuführen. Als Alchemist oder Beschwörer hätte ich vielleicht größere Macht erlangen können, aber ich hatte andere Prioritäten.“ Seine Stimme war sachlich und sein Gesicht spiegelte nichts als freundlichen Gleichmut – der in krassem Gegensatz zu seinem durchdringenden Blick stand. „Allerdings sind meine Fähigkeiten nach wie vor ausreichend, um zu erkennen, wenn jemand jüngst Magie gewirkt hat. Du bist ein magisches Leuchtfeuer, Drúdir – noch mehr als sonst. Und ich glaube auch zu wissen, warum du deine Vorbehalte vorübergehend ignoriert hast.“
Drúdir nickte ruckartig. Er mied Wisdrins Blick. „Du vermutest ganz richtig, schätze ich. Und deshalb bin ich hier.“
Statt sofort auf seine Antwort einzugehen, brachte Wisdrin seine Kleidung mit derselben Sorgfalt in Ordnung, mit der er sich ihrer entledigt hatte. „Ich glaube, der Tee ist fertig. Begleitest du mich ins Foyer?“
Stumm folgte Drúdir ihm. Wisdrin wies auf einen der beiden Stühle, die an einem kleinen, runden Tisch am Fuß der Treppe standen und verschwand kurz hinter einem der verblichenen Vorhänge, um dann mit einem Tablett zurückzukehren. Er goss ihnen mit der zurückhaltenden Eleganz eines elfischen Teemeisters grünen Tee ein, dessen Duft und kräftiger Smaragdton Drúdir beinahe ein müdes Lächeln entlockten. Für einen Mann, der in einem Schrank lebte, hatte Wisdrin einen kostspieligen Geschmack.
Schließlich setzte der Bibliothekar seine Tasse ab. Er schien nach einem behutsamen, eleganten Einstieg gesucht zu haben und kläglich gescheitert zu sein. „Also, was hast du gesehen, Drúdir?“
Wisdrins Direktheit ließ ihn zusammenzucken. Er antwortete so sachlich, wie er konnte: „Fragars letzte Minuten.“
Wisdrin lehnte sich nicht vor, aber ein harter, kalter Ausdruck trat in seine Augen und etwas Gebieterisches in seine Stimme. „Hast du seinen Mörder gesehen?“
„Er stand hinter Fragar. Alles, was ich habe, ist der Anblick seiner Schuhe, der Klang seiner Stimme und ein Name.“ Drúdir senkte die Stimme, als wären sie Darsteller in einem Zwei-Kupfrir-Drama. Das half ihm, die Bilder auf Distanz zu halten. „Kargan“, raunte er nach einer Kunstpause.
Unglauben flackerte in Wisdrins Miene auf, gefolgt von Misstrauen und Wut. „War er es?“
„Zumindest ist der Mörder losgeschickt worden, weil jemand glaubt, Kargan könnte Fragar etwas über ein Projekt verraten haben, an dem er gearbeitet hat. Fragar hatte keine Ahnung, was genau es war, aber Kargans Fragen und Andeutungen haben gereicht, um ihn misstrauisch werden zu lassen.“
Drúdir schwieg. In seinem Inneren klangen die Empfindungen nach, die Kargans Name in Fragar ausgelöst hatte. Besorgnis, Bedauern … und Enttäuschung.
Wisdrin schüttelte leicht den Kopf. Es war bemerkenswert, wie viel Verachtung er in eine Geste legen konnte, die kaum mehr als eine Andeutung war. „Ja, das klingt ganz nach Kargan.“
Drúdir wartete auf eine Erläuterung. Sie kam nicht. Schlafmangel und emotionale Erschöpfung erlangten mühelos den Sieg über Wisdrins mäßigenden Einfluss. „Wer beim Abgrund ist Kargan?“, verlangte er schließlich zu wissen und weigerte sich, angesichts des Widerhalls seiner Stimme Verlegenheit zu empfinden.
Wisdrins Augenbrauen wanderten in die Höhe. „Ich dachte, das wüsstest du. Kargan war so etwas wie dein Vorgänger als Fragars Lehrling.“
„Augenblick. Das Gesicht, das Fragar vor Augen hatte, gehörte einem Menschen.“
„Ich bezweifle, dass dies Fragar entgangen ist. Kargan hat bei ihm auch keineswegs gelernt, Uhrwerke zusammenzubauen.“
„Du klingst missbilligend.“
„Ich war Kargan nicht gerade zugetan. Ich habe unter den Praktizierenden des Tempels zu viele Leute getroffen, denen er in seiner Einstellung allzu ähnlich war.“
„Leute, wie die, denen wir die Magierkriege und das Magieverbot verdanken?“
Wisdrins Lächeln war bitter und ein wenig boshaft. „Nein, Drúdir. Die verdanken wir eher Leuten wie dir.“
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