Er umrundete eine Pfütze und bog, ohne nachdenken zu müssen, in eine schmale Gasse ein. Seit er das letzte Mal hier gewesen war, waren Jahre vergangen und wie so viele Zwergenstädte war auch Nordkrone seit der industriellen Revolution im stetigen Wandel begriffen. Aber Drúdir war diesen Weg früher so oft gegangen, dass seine Füße ihn auch jetzt noch beinahe ohne sein Zutun fanden.
Pfützenwasser spritzte unbeachtet um seine Stiefel auf, als er jäh zum Stehen kam. Der Anblick des kleinen Hauses – wie so viele Zwergenbauten gedrungen, mit kleinen Fenstern dicht unter dem überhängenden, gewölbten Dach – traf ihn wie ein Schlag. Es sah genauso aus wie an dem Tag, an dem er die Stadt verlassen hatte, um den Erwartungen Fragars und dem beängstigenden Erbe, mit dem dieser ihn vertraut gemacht hatte, zu entkommen.
Und nun war er wieder hier. Bereit, die Fähigkeiten einzusetzen, deren Existenz er am liebsten geleugnet hätte.
Fragar hätte hinter seinem altmodischen Bart gelächelt – wenn nur nicht ausgerechnet seine Ermordung seinen Lehrling hergeführt hätte.
Drúdir presste die Lippen aufeinander. Sein Inneres fühlte sich rau an. Jeder Schritt kostete ihn Überwindung, aber Umkehren war keine Option. Er würde keinen Frieden finden, ohne zumindest versucht zu haben, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Gewiss, die Stadtwache untersuchte den Mord. Aber sie hatten nicht die Möglichkeiten, über die er verfügte.
Er brachte die letzten Schritte hinter sich und trat unter das überhängende Dach. Fragar hatte sich geweigert, den Zweitschlüssel anzunehmen, den Drúdir ihm hatte zurückgeben wollen. Du weißt, dass du jederzeit zurückkommen kannst, Drúdir. Und wenn du das tust, will ich nicht, dass du eine verschlossene Tür vorfindest. Fragar hatte nicht nur alles gewusst, was es über die Vergangenheit der Zwerge zu wissen gab, auch seine scharfsinnigen Prognosen für die Zukunft waren in der Regel zutreffend gewesen. Doch die genauen Umstände von Drúdirs Rückkehr hatte sich keiner von ihnen vorstellen können. Wieso auch? Wer sollte Fragar ermorden, sein Haus und seine Werkstatt auf den Kopf stellen, dabei aber sowohl die Ersparnisse als auch die kostbaren Werkzeuge des alten Uhrmachers ignorieren? Der Mord war nicht nur tragisch, er entbehrte auch jedweder Logik.
Drúdir schob den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn und schob die Tür auf. Alles in einer einzigen hektischen Bewegung; als versuchte er, seinen Zweifeln zuvorzukommen.
Dunkelheit umfing ihn, und ein vertrauter Druck legte sich auf seine Schläfen. Seine Hände und Füße verwandelten sich in eisige Fremdkörper am Ende seiner Gliedmaßen und ein feines, schneidendes Surren klang in seinen Ohren. Oh ja, hier war jemand gestorben.
Wahrscheinlich gab es genug seltsame Gestalten, auf die der Schauplatz eines Mordes eine morbide Faszination ausübte, aber Drúdir gehörte gewiss nicht dazu. Dafür sorgte seine unwillkommene Begabung. Wann immer er an die Zeit dachte, in der er sie noch nicht hatte unterdrücken können, zuckte er innerlich zusammen.
Mittlerweile gab es viele, für die Magie beinahe ein Mythos war; eng verwoben mit der präindustriellen Zeit, in der – was einige gerne vergaßen, während andere kaum an etwas anderes zu denken schienen – die magisch unterdurchschnittlich begabten Zwerge immer wieder Opfer von Invasionen und Unterdrückung gewesen waren. Auch Drúdir hatte sich mit der langen, wechselvollen Geschichte kiarvanischer Magie beschäftigt und für ihn war sie vor allem eines: Der Grund für Stagnation. Beinahe zwei Jahrhunderte lang hatten Technik und Wissenschaft auf demselben Stand verharrt. Wieso auch nicht? Diejenigen, deren Bildung und Lebensumstände es gestattet hätten, an irgendeinem Fortschritt mitzuwirken, waren nicht darauf angewiesen gewesen. Schließlich hatten sie die Dienste eines Magiers in Anspruch nehmen können.
Als man die Magie nach den Magierkriegen geächtet hatte, hatte dies vielerorts Zusammenbrüche von Kultur und Gesellschaft nach sich gezogen – aber auch der industriellen Revolution den Weg geebnet, die vor einem halben Jahrhundert begonnen hatte. Der Großteil der Kiarvaner war euphorisch gewesen, gebannt von der Vision eines Kontinents, auf dem nicht der gesellschaftliche Stand und die magische Begabung zählten, sondern was man mit seinem Geist und seinen Händen vollbringen konnte. Eine Zeit des unaufhaltsamen Fortschritts, aus der sie alle reicher und zufriedener hervorgehen würden.
Drúdir hatte diese ersten Jahre nicht miterlebt, aber genug ältere Zwerge von ihnen erzählen hören, um die damalige Begeisterung nachvollziehen zu können – und traurig zu belächeln. Gewiss, es gab Zwerge und Menschen, denen es gelungen war, binnen kürzester Zeit sagenhaft reich zu werden. Viele der Besitzer der Walzwerke und Baumwollspinnereien oder Luftschifffluglinien waren in den präindustriellen Jahren noch kleine Geschäftsleute und Handwerker ohne reelle Chancen auf Aufstieg gewesen. Mittlerweile jedoch bildeten sie eine verschworene Clique – und der Gedanke, dass andere ihre Erfolgsgeschichten wiederholen könnten, behagte ihnen ganz und gar nicht. Reichtum und Zufriedenheit für alle … Drúdir konnte sich gut vorstellen, welche Antwort ein Fabrikarbeiter ihm darauf geben würde.
Dennoch: Drúdir mochte ein Skeptiker sein, der mit offenen Augen und einem Hang zum Zynismus durchs Leben ging, aber auch er war von der rasanten Transformation des Kontinents durch die neuartigen Maschinen und die bisher ungeahnte Vernetzung fasziniert. Er wollte nur zu gerne sehen, wo diese Entwicklung die Völker Kiarvas hintrug. Und vor allem hielt er jeden, der gegen den Fortschritt wetterte und sich die alten Zeiten zurückwünschte, für einen ausgemachten Dummkopf.
Umso peinlicher, dass Drúdir selbst sich als ein Relikt dieser Ära herausgestellt hatte. Ausgerechnet in ihm, einem zwergischen Feinmechaniker, waren ohne jede Anleitung magische Kräfte erwacht. Noch vor zweihundert Jahren hätte die Natur seiner Begabung ihn zu einem Mann gemacht, der gleichermaßen gefürchtet und geehrt wurde. Heute jedoch war er nur ein wütender Zwerg, der Tag und Nacht geistige Barrieren aufrecht erhielt, um sich vor seinen Fähigkeiten abzuschirmen. Seine erste Begegnung mit ihnen hatte seiner früheren Faszination für Zauberei ein jähes Ende gesetzt und ihn dazu gebracht, auf Abstand zu Fragar und seinen merkwürdigen Freunden zu gehen. Es handelte sich bei ihnen um ein sonderbares Netzwerk aus Magiern und denjenigen, die sie unterstützten, sei es aus persönlichen Gründen, fehlgeleiteter Nostalgie oder wissenschaftlicher Faszination für Magie und ihre Möglichkeiten, wie in Fragars Fall. Selbst Drúdir wäre ihnen willkommen gewesen. Allerdings hatte er sehr deutlich gemacht, dass das umgekehrt nicht galt.
Drúdir hatte nie etwas anderes als ein Mechaniker und Kunstschmied, maximal ein Erfinder sein wollen. Der heutige Abend änderte nichts daran. Er würde seine Fähigkeiten einmal und nie wieder einsetzen. Zumindest war das der Plan. Aber ein Teil von ihm fragte sich bang, ob er die Tür, die er damit aufstieß, wieder würde schließen können.
Entschieden drängte er seine Zweifel zur Seite und öffnete sich den Eindrücken, die er sonst Tag und Nacht in einer mittlerweile nahezu unbewussten Anstrengung verdrängte. Er wusste nicht, was ihn mehr beunruhigte: das verschlungene Netz von Magielinien, das sich ihm offenbarte, oder das Gefühl der Vertrautheit, welches seiner Ablehnung so entgegenstand. Er runzelte die Stirn. Waren die Muster heller und deutlicher geworden? Strebten sie mehr zu ihm hin?
Die Magie, die in schimmernden Schleiern über allem lag, reagierte auf jeden seiner Gedanken, schmiegte sich an ihn und schlang komplizierte Knoten um jedes Objekt, das er bearbeitete – und ließ es natürlich nicht unverändert.
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