Was er gerade aus der Tasche zog, war ein gutes Beispiel dafür: Ein etwa faustgroßes Metallobjekt, das sich, sobald er es mit einem kleinen Schlüssel aufgezogen hatte, wie ein Blütenkelch öffnete. Verschnörkelte, goldene Flügel entfalteten sich surrend und auf der kleinen, von ihnen getragenen Platte begann eine winzige, aber helle Glühbirne zu leuchten. Flatternd erhob sich die filigrane Konstruktion in die Luft und verharrte neben seiner Schläfe; die Flügel nur ein metallisches Flirren. Drúdir fischte zwei weitere schwebende Lichter aus seinen Taschen und zog sie auf. Schließlich wagte er sich, von den Lampen wie von seltsamen Monden umkreist, in die dämmrige Werkstatt.
Drúdir war ein außergewöhnlich guter, erfindungsreicher Handwerker. Es gab jedoch viele Zwerge, die ihn an Geschick bei weitem übertrafen. Jeder von ihnen hätte solche schwebenden Lichter konstruieren können. Aber nur Drúdir konnte sie mit seinen Gedanken durch den Raum lenken. Nur Drúdir konnte Lampen schaffen, deren Flügel sie nach den Gesetzen der Physik eigentlich unmöglich in der Luft halten konnten. Die Spuren, die sie durch die Schleier der Magie zogen wie eine Hand über eine Wasseroberfläche, belegten, dass es bei ihrer Erschaffung nicht ganz mit rechten Dingen zugegangen war.
Eigentlich hätte er ihr Licht nicht gebraucht. Durch eines der Fenster fiel der schwache Widerschein einer Straßenlaterne. Einem Menschen wäre es zu dunkel gewesen, doch die Nachtsicht der Zwerge übertraf selbst die der so oft gerühmten Elfenaugen. Doch das, was er vorhatte, wollte er nicht im Dunkeln tun. Auch musste er die vertrauten Räume noch einmal bei Licht sehen. Ihr Anblick würde schmerzen, aber er konnte nicht anders.
Drúdir ließ den kleinen Vorraum – irgendjemand hatte Fragars Schuhe und Mantel aus der Garderobe entfernt – hinter sich und schob die angelehnte Tür zur Werkstatt auf. Holzdielen knarzten unter seinen Füßen. Selbst dieses Geräusch war ihm nur zu vertraut. Er erinnerte sich daran, wie sie noch leise unter seinem damals viel leichteren Gewicht geknarrt hatten, als er als Kind in Begleitung seines Vaters zum ersten Mal hier hereingekommen war und sich auf die Zehenspitzen gestellt hatte, um die faszinierenden Gerätschaften und halb beendeten Uhrwerke auf den Werkbänken näher in Augenschein zu nehmen. Das Knarzen war bereits deutlicher vernehmbar gewesen, als er als Jugendlicher hereingekommen war, um die Lehrstelle bei Fragar anzutreten. Und er erinnerte sich an das empörte Quietschen der Dielen, als er an jenem Morgen in die Werkstatt gestürmt war, verstört vom Tod seiner Eltern. Verstört von den Stimmen und Bildern und Empfindungen, die durch seinen Kopf jagten, von den schimmernden Schleiern, deren Muster auf seltsame Weise zu ihm sprachen - Kokons aus Leere und Scherben.
Fragar hatte ihm gelauscht und ihm schließlich, als er sich etwas beruhigt hatte, schweigend seine erste Schwebende Lampe, die er erst vor wenigen Tagen beendet hatte, entgegengehalten und ihn gebeten, die Flügel auszumessen und ihre Tragfähigkeit auszurechnen. Deine Fähigkeiten sind nicht neu, Drúdir. Sie waren immer schon ein Teil von dir und du hast sie genutzt, ohne es zu wissen.
Die nächsten Monate waren schrecklich gewesen, aber Fragar hatte ihm zur Seite gestanden. Hatte ihn zu nichts gedrängt und ihm geholfen, nicht nur mit dem Verlust seiner Eltern umzugehen, sondern auch, eine Welt zu begreifen, die von dem seltsamen Leuchten der Magie durchdrungen war.
Drúdirs Augen brannten. Er hatte es sich nicht eingestehen wollen, aber mit Fragars Tod hatte er zum zweiten Mal seinen Vater verloren. Nun gut, einen Vater, mit dem er tagelang gestritten und den er zuletzt monatelang nicht gesehen hatte. Aber trotz allem war Fragar sein Freund und Mentor gewesen. Er hoffte nur, dass der ältere Zwerg das gewusst hatte.
Bestimmt hatte er das. Und wahrscheinlich würde er – selbst in Anbetracht der Umstände – triumphierend grinsen, wenn er Drúdir jetzt sehen könnte.
Drúdir bewegte sich durch die Werkstatt wie durch einen unheimlichen Traum. Eine feine Staubschicht hatte sich auf allem niedergelassen, seit die Stadtwache hier gewesen war, alles untersucht und offenbar auch mitgenommen hatte. Weder von Fragars fertigen Uhren, noch von angefangenen Projekten, noch von seinen Werkzeugen war eine Spur zu sehen. Nur die beiden langen, wuchtigen Arbeitstische und die vier kleinen Hocker standen noch da. Daneben registrierte Drúdir aus dem Augenwinkel eine Kreidespur – und einen dunklen Fleck, wo eigentlich schimmernde Magie sein sollte.
Er drehte sich um, trat an eine der Werkbänke – wie oft hatte er selbst hier gesessen und unter Fragars kundiger Anleitung mechanische Geräte auseinandergenommen und zusammengesetzt? – und spähte darüber hinweg. Ja, da waren vergessene Kreidestriche auf dem Boden. Drúdir hätte nicht seine magische Sicht gebraucht, in welcher gewaltsam vergossenes Blut von einem purpurnen Glühen umgeben war, um sich zusammenzureimen, dass sie einmal zum Umriss einer liegenden Gestalt gehört hatten.
Hier war Fragar gestorben.
Das leise Surren in seinem Hinterkopf hatte sich zu einem schrillen Pfeifen gesteigert. Und da war es: Ein Raum ohne Magielinien wie ein zwergengroßer, dreidimensionaler Schatten, durch den scharfkantige Scherben trieben. Bei näherem Hinsehen offenbarten sie sich als Ornamente aus feinsten, unglaublich dichten Fadenstrukturen. Allerdings begannen die Ränder des Schattens bereits leicht auszufransen und viele der Scherben zu verschwimmen. Nur einige wenige glühten noch immer hell und klar umrissen.
Trotz eines beschämenden Anflugs der Faszination für die komplexen Strukturen der komprimierten Magie hätte Drúdir sich am liebsten abgewendet. Er hatte von menschlichen Scharlatanen gehört, die entweder vorgaben oder tatsächlich glaubten, mit den Toten kommunizieren zu können. Sie führten ihre Kunden auf Friedhöfe oder an die Stätten des Todes ihrer Angehörigen und lullten sie mit Erzählungen von guten, über sie wachenden Geistern und ewigem Frieden ein. Drúdir wusste nicht, ob er darüber zornig sein oder bitter lachen sollte. Die Toten hatten den Lebenden nichts zu geben außer schmerzhaften Erinnerungen.
Er umrundete den Tisch, als drei Lichter urplötzlich neben ihm aus dem Halbdunkel ploppten, zusammen mit einer humanoiden Gestalt. Der Zwerg fuhr zusammen und wich zurück, erkannte dann jedoch, was ihn hatte zurückschrecken lassen: Ein Spiegel, den Fragar sich wohl in den letzten Monaten angeschafft hatte. Es war ein guter Spiegel, der jedes Detail glasklar wiedergab; selbst die teilweise offenliegenden Zahnräder und Drähte, die die schwebenden Lampen bewegten. Er sah auch sein eigenes bleiches, müdes Gesicht; jede regendunkle Haarsträhne, die ihm an den Wangen klebte.
Selbst für ein erleichtertes Aufatmen zu angespannt, ließ er sich auf die Knie sinken, direkt neben dem schattenhaften Umriss, den Fragars gewaltsamer Tod dem magischen Gefüge eingebrannt hatte. Es würde Monate dauern, bis er wieder schwand. Mit leichter Verzögerung folgten Drúdirs Lampen seiner Bewegung.
Beim Gedanken an das, was kommen würde, spürte Drúdir Übelkeit in sich aufsteigen. Doch so groß seine Angst und sein Ekel auch sein mochten, er zögerte keinen Moment mehr. Noch ein tiefer Atemzug, dann tauchte er seine Hände in Fragars Schatten. Sofort wurde ihm eiskalt, und das hatte nichts mit seiner klammen Kleidung zu tun. Er sog scharf die Luft ein, als sich die feuchten Fußspuren, die er auf dem Werkstattboden hinterlassen hatte, in Ovale aus schimmerndem Reif verwandelten.
Drúdir zwang sich, erneut den Blick zu senken. Er fischte nach der Scherbe, die ihm mitteilen würde, was er wissen musste, und ließ auch die letzten der mühsam errichteten Wälle um sein Bewusstsein fallen.
Die hellste und scharfkantigste der Scherben glitt auf seine Finger zu. Ihre Farbe erinnerte ihn an weißglühendes Metall, doch ihre Berührung versengte ihn nicht. Stattdessen jagte ein kribbelnder Impuls seinen Arm hinauf und ließ jeden Muskel in seinem Körper verkrampfen. Eine Woge fremder Erinnerungen und Emotionen spülte über ihn hinweg, bis er nicht mehr wusste, wer er war.
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