Da waren nicht nur die breiten Lichtbänder und verschlungenen Knoten, die er bisher gesehen hatte. Nein, jedes einzelne Band war aus unzähligen feineren Fäden gewoben, die ihrerseits aus komplexen Verflechtungen und Knoten haarfeiner Fasern bestanden. Drúdir konnte sie alle so klar und detailliert sehen wie nie zuvor. Und so sehr ein Teil von ihm sich auch wünschte, in einer Welt zu leben, in der der Platz nur aus rußgeschwärzten Häusern unter einem grauen Himmel bestand, konnte er doch nicht umhin, über die Komplexität und Anmut der Magiebewegungen zu staunen. Sie fühlten sich auf schwer fassbare Weise fremdartig an, als würden sie halb in eine andere Welt gehören, aber zugleich wirkten sie in ihren Bewegungen und Mustern so vollkommen und organisch, dass Drúdir nicht anders konnte als innerlich all denen zu widersprechen, die Magie als widernatürlich und böse verfluchten.
Dennoch verstand er ihre Angst. Jeder einzelne dieser Stränge trug so viel Macht, so viele Informationen, so großes Potenzial zur Zerstörung in sich … und mehr Rätsel, als ein Zwerg je würde lösen können.
Auch das war einer der Gründe gewesen, warum er dem Netzwerk den Rücken gekehrt hatte: Zu viele seiner Mitglieder waren allzu begierig darauf, mit Kräften zu spielen, die sie nicht einmal ansatzweise verstanden.
Diese Überlegung brachte die Erinnerung an Fragar zurück. Auch er hatte die Magie sehen können … allerdings wahrscheinlich nie mit derselben Schärfe, mit der Drúdir sie jetzt wahrnahm. Beinahe bedauerte er das. Er wusste, wie viel seinem Meister dieser ehrfurchtgebietende Anblick bedeutet hätte.
Als hätte dieser Gedanke etwas in ihm gelöst, gelang ihm plötzlich mühelos, worin er bisher versagt hatte: Sein Zweites Gesicht gehorchte endlich seinen Wünschen, und als er den Kopf senkte, fiel sein Blick auf regennasses Pflaster. Er rollte die Schultern, um seine verkrampften Nackenmuskeln zu lockern, und blickte wieder auf. Noch immer war er aufgewühlt. Die Flucht vor der unbekannten Zwergin, die quälende Vision von Fragars Tod und das sonderbare Bedürfnis, nach den allgegenwärtigen Magiefäden zu greifen und sie zu einem neuen Muster zu verweben … nichts war mehr, wie es zuvor gewesen war.
Und zu allem Überfluss würde die Suche nach Fragars Mörder ihn wahrscheinlich tiefer in die verworrenen Strukturen des Netzwerks führen, als ihm lieb war. Drúdir seufzte.
Dann straffte er den Rücken und setzte sich mit langsamen, aber entschiedenen Schritten in Bewegung.
Es war an der Zeit, seine Suche zu beginnen. Und er wusste auch schon, wo.
Zweieinhalb Stunden (und einige Flüche über knapp verpasste Straßenbahnen) später klopfte er an eine altersdunkle Tür irgendwo in den Ausläufern der Stadt. Sie gehörte zu einem im traditionellen zwergischen Stil erbauten Gebäude: Gedrungen und langgestreckt, mit einem gewölbten Schieferdach und mit kunstvollen, geometrischen Mustern versehenen Metallbeschlägen an Türen und Fensterläden.
Ein sorgfältig poliertes Messingschild wies jeden, der nahe genug kam, um die winzigen Buchstaben zu entziffern, darauf hin, dass dieses Gebäude die „Sprakar-Godwis-Historig-Rúnhalar“ beherbergte – die Bibliothek für Sprachen, Theologie und Geschichte. Ein etwas später angebrachtes Schild bat um Spenden, um die Bewahrung unschätzbar wertvollen Wissens für spätere Generationen zu gewährleisten. Es hatte bereits hier gehangen, als Drúdir die Bibliothek zum ersten Mal betreten hatte und er konnte sich gut vorstellen, dass es heute ebenso wenig Wirkung erzielte wie damals.
Die Tür schwang auf und Drúdir fand sich Auge in Auge mit Wisdrin Halison. Der letzte Bibliothekar, wie er sich gelegentlich selbstironisch nannte, sah müde aus. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe und sein Haar war mittlerweile vollkommen weiß. Den Gehstock mit dem silbernen Knauf hatte er bereits vor zehn Jahren immer bei sich gehabt, aber nun schien er tatsächlich Gewicht darauf zu verlagern. Trotzdem hielt er sich kerzengerade und duldete Nachlässigkeit in seiner Erscheinung ebenso wenig wie früher. Drúdir ließ seinen Blick über Wisdrins perfekt gebügeltes Hausjackett, das blütenweiße Hemd und die polierten Schuhe gleiten und schüttelte innerlich den Kopf. Trotzdem vermied er es, an sich selbst herabzublicken. Etwas an Wisdrin vermittelte einem das plötzliche, unerklärliche Bedürfnis, korrekt auszusehen.
„Drúdir …“
Es war eines der wenigen Male, dass er Wisdrin überrascht erlebte. Was sich jedoch nicht verändert hatte, war der leichte Akzent des älteren Zwerges, den Drúdir immer mit einer gewissen, altmodischen Kultiviertheit assoziierte.
„Hallo, Wisdrin.“
Wisdrin zögerte für einen Moment und vollführte ein paar seltsame, unvollendete Bewegungen, als erwöge er, Drúdir zu umarmen, beschied sich dann jedoch mit einem verblüffend kräftigen Händedruck und dem kurzen Aufflackern eines warmen Lächelns.
„Ich habe deinen Abschied bedauert.“
„Natürlich“, bemerkte Drúdir mit einem halben Lächeln. „Unbezahlte Gehilfen sind nicht allzu leicht zu finden, nehme ich an.“
„Du hast keine Vorstellung.“ Wisdrins Gesicht wurde ernst. „Es tut mir leid um Fragar. Er war einzigartig. Sein Tod … das hätte nicht geschehen dürfen.“
Drúdir nickte ernst. Unwillkürlich kniff er die Augen zusammen, als die Bilder der letzten Nacht jäh auf ihn einhämmerten. Es kostete ihn mehr Beherrschung, als er sich selbst zugetraut hätte, sich nicht mit beiden Händen an die Kehle zu fahren und im Anschluss dem unbekannten Mörder noch einmal leidenschaftlich Rache zu schwören.
Mit einiger Mühe brachte er sein Gesicht unter Kontrolle und konzentrierte sich ganz auf Wisdrins Miene. Die hellblauen Augen des alten Zwerges begegneten den seinen. Er las Melancholie darin, Mitgefühl, aber auch eine scharfe Intelligenz, die hinterfragte und kalkulierte … und sich angesichts von so viel unverhüllter Emotion vor Verlegenheit wand. Nach einem langen, sezierenden Blick wandte sich Wisdrin von Drúdirs Schmerz ab wie ein pietätvoll Trauernder von einem offenen Grab.
„Am besten, du kommst herein. Darf ich dir eine Tasse Tee anbieten? Ich schätze viele Aspekte dieser neuen Zeit nicht besonders, aber die neuen Teeklipper wiegen einiges davon auf. Man könnte ein paar Lieferungen tatsächlich als frisch bezeichnen.“
Drúdir folgte Wisdrin nach drinnen. Das Foyer der Bibliothek war ebenso makellos gepflegt wie Wisdrins Kleidung, aber die allgegenwärtige Sauberkeit hob eher noch hervor, dass es, ebenso wie die Bibliothek selbst, nur ein Schatten seiner selbst war. Die kunstvollen Wandteppiche, die in dramatischen Bildern Begebenheiten der zwergischen Geschichte und Mythologie festhielten, waren bereits vor Jahren verkauft worden. Nur noch ein paar Zeichnungen und Landkarten hingen an den Wänden. Noch immer verlief ein Teppich über die Stufen, die zum Hauptsaal hinaufführten, aber man erahnte sein einstiges Grün eher, als dass man es tatsächlich sah, so ausgeblichen war er mittlerweile.
Wisdrin schob einen der langen, ebenso verblichenen Vorhänge zur Seite, die an jeder Seite der Treppe bis zum Boden hingen. Es knarrte leise und Drúdir wusste, dass Wisdrin die Tür eines der Zimmer aufschob, die einst als Lagerräume für Werkzeug und Putzutensilien gedient hatten und von denen der Bibliothekar nun eines zum Kochen und eines zum Schlafen nutzte.
„Geh doch nach oben, während ich Tee koche“, rief Wisdrin. Er war vielleicht nicht der einzige Zwerg, der sich nichts aus starkem, dunklem Bier machte, aber womöglich der einzige, der es offen zugab.
Drúdir stieg die Stufen hoch und fragte sich, ob seinem Gastgeber jetzt Staub auf den Kopf rieselte. In Wisdrins Jugend hätte wohl niemand gedacht, dass er eines Tages so leben würde. Bevor Grüntal mit seiner Hauptstadt Nordkrone ein Bundesstaat der Union wurde, war es, obwohl nominell eine direktdemokratische Republik, dennoch von einer Handvoll aristokratischer Familien und der Priesterschaft des Lohi regiert worden. Als Nachkomme einer der reichsten Adelsfamilien und geweihter Priester des größten Lohi-Tempels hatte der auffallend intelligente Wisdrin mit einer rosigen Zukunft rechnen können – bis die Magierkriege und das darauffolgende Verbot der Magie und der Abschaffung des institutionalisierten Glaubens alles verändert hatten. Wisdrin war neutral geblieben, während seine Familie sich auf die falsche Seite geschlagen hatte. Dadurch wurde er der Alleinerbe eines bemerkenswerten Vermögens, welches er bis zum letzten Gulder in die Erhaltung der Tempelbibliothek steckte.
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