NANNI BALESTRINI
Nanni Balestrini (1935–2019) war zusammen mit Umberto Eco, Edoardo Sanguineti u.a. einer der bedeutendsten Vertreter der italienischen Neoavanguardia und Mitbegründer der »Gruppo 63«. Er betätigte sich als Schriftsteller wie bildender Künstler, als Zeitschriftengründer wie Verlagslektor. Politisch in der undogmatischen Linken beheimatet, stellt sein Schaffen von Beginn an den Versuch dar, den Impuls einer tiefgreifenden Veränderung der Gesellschaft mit experimenteller Praxis und Radikalität der ästhetischen Form zu verbinden.
Sein Werk reflektiert wie kaum ein anderes die jüngere Sozialgeschichte Italiens. Sein Roman »Wir wollen alles« wurde zum Parolengeber einer anderen Arbeiterbewegung. Bei Assoziation A erschienen von ihm die Romantrilogie »Die große Revolte«, die Camorra-Geschichte »Sandokan« sowie die Anthologie »Landschaften des Wortes«.
Nanni Balestrini
Roman
Aus dem Italienischen
von Christel Fröhlich und Andreas Löhrer
Titel der italienischen Originalausgabe: L’editore
© Nanni Balestrini
This edition published in agreement with MalaTesta Literary Agency, Milan
Die von Nanni Balestrini zitierten Passagen aus dem Roman
»Unter dem Vulkan« von Malcolm Lowry wurden der von
Susanne Rademacher übersetzten und von Karin Graf durchgesehenen
deutschen Ausgabe entnommen, die 1989 im Rowohlt Verlag erschienen ist.
© der deutschsprachigen Ausgabe: Berlin/Hamburg 1992, Neuausgabe 2020 Assoziation A,Gneisenaustraße 2a, 10961 Berlin
www.assoziation-a.de, hamburg@assoziation-a.de, berlin@assoziation-a.de
Gestaltung: Andreas Homann
eISBN 978-3-86241-635-6
Dich, höre ich da
Haben sie verjagt mit
Gutem Grund
Bertolt Brecht
Vorwort
Erste Szene
Zweite Szene
Dritte Szene
Vierte Szene
Fünfte Szene
Sechste Szene
Siebte Szene
Achte Szene
Neunte Szene
Zehnte Szene
Elfte Szene
Zwölfte Szene
Anmerkungen
Theo Bruns
Verleger der Revolte
Ein Vorwort
»Die Methoden seiner Prosa sind so experimentell wie die sozialen Bewegungen, von denen sie handelt«, schrieb Peter O. Chotjewitz über das Schaffen des italienischen Schriftstellers Nanni Balestrini. Dies gilt auch und in besonderem Maße für den Roman »Der Verleger«, sein in Form und Inhalt vielleicht radikalstes und virtuosestes Werk.
Auch wenn der Name in dem Roman nicht ein einziges Mal genannt wird, so ist doch klar, um wen es sich bei dem Verleger handelt. Es geht um Giangiacomo Feltrinelli, die vielleicht einflussreichste und schillerndste Verlegerpersönlichkeit der europäischen Nachkriegsgeschichte. Am 19. Juni 1926 in Mailand geboren, nahm er als junger Mann am Befreiungskampf gegen die deutsche Besatzung und das Mussolini-Regime in den Reihen der US Army teil. In diesem Kontext machte er die Bekanntschaft von Partisanen, deren Tradition für ihn zeitlebens die zentrale Achse seines politischen Denkens und Handelns bilden sollte. Im März 1945 trat er der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) bei, die er nach dem sowjetischen Einmarsch in Ungarn 1956 wieder verließ.
Nach dem Krieg gründete Feltrinelli eine Bibliothek sowie ein weltweit beachtetes Institut zum Studium der internationalen Arbeiterbewegung und des Sozialismus. 1954 eröffnete er den Feltrinelli-Verlag in Mailand, dem später eine Kette von Buchläden, die sich in Zentren der Bewegung verwandelten, angegliedert wurde. Binnen kurzem hatte der Verlag riesigen Erfolg. »Doktor Schiwago« von Boris Pasternak und »Der Leopard« von Giuseppe di Lampedusa wurden zu Weltbestsellern. Das weltoffene Projekt war international ausgerichtet, ein Leuchtturm freien Denkens, um den sich zahlreiche junge Schriftsteller und Intellektuelle scharten. Balestrini, der seit 1962 im Verlag arbeitete, erinnert sich rückblickend an die »prickelnde Atmosphäre von intellektueller Vitalität, von Freundschaft und Komplizenschaft«. Auch Inge Feltrinelli, eine deutsche Fotografin und dritte Ehefrau des Verlegers, hebt den Enthusiasmus, das Himmelstürmende der Anfangsjahre hervor. »Jeder von uns glaubte, der Verlag sei das Zentrum der Welt.«
Die kubanische Revolution war für Feltrinelli ein elektrisierendes Ereignis, das in seinem Denken mit der Erfahrung der Resistenza verschmolz. Mehrfach reiste er nach Kuba, wo er Fidel Castro und Che Guevara traf. Als der französische Philosoph und Revolutionstheoretiker Régis Debray in Bolivien als angeblicher Mitkämpfer Ches verhaftet wurde, reiste Feltrinelli nach La Paz, um sich für seine Freilassung einzusetzen. Er hatte zuvor dessen Buch »Revolution in der Revolution«, die klassische Formulierung der Fokustheorie, die die kubanische Erfahrung auf den Begriff brachte, in italienischer Übersetzung herausgebracht. In der Folge wurde Feltrinelli selbst verhaftet, zwei Tage lang verhört und schließlich des Landes verwiesen. Nach dem Tod Guevaras übersetzte und publizierte er dessen »Bolivianisches Tagebuch«, das sofort in zehntausendfacher Auflage Verbreitung fand. Auf dem Buchcover war das ikonische Foto abgebildet, das der kubanische Fotograf Alberto Korda von dem Guerillero gemacht hatte.
Feltrinelli, der gut Deutsch sprach, war der Studentenbewegung in der BRD eng verbunden und mit Rudi Dutschke befreundet. Er eröffnete den Internationalen Vietnamkongress im Februar 1968 in Berlin und ging wie Dutschke der strategischen Frage nach, ob und wie eine Übertragung der Guerillamethoden aus der Dritten Welt in die Metropolen möglich sei. Nach dem Attentat auf Dutschke lud ihn Feltrinelli nach Mailand ein, um ihm einen geschützten Raum für seine Rekonvaleszenz zu gewähren.
In Italien kam es im Heißen Herbst 1969 zu einem Ausbruch von Arbeiterkämpfen neuen Typs, zu spontanen, von räteähnlichen Komitees organisierten Massenstreiks, die sich der Kontrolle der Kommunistischen Partei und der Gewerkschaften entzogen. Gleichzeitig wurde das Land von einer Serie von Attentaten der extremen Rechten erschüttert, die ihren blutigen Höhepunkt in dem Bombenanschlag in der Nationalen Landwirtschaftsbank an der Piazza Fontana in Mailand am 12. Dezember 1969 fand. Obwohl – wie sich herausstellen sollte – Anhänger der faschistischen Organisation Ordine Nuovo für den Anschlag verantwortlich waren, wurde die Tat zunächst der Linken angelastet und die Anarchisten Pietro Valpreda und Giuseppe Pinelli wurden beschuldigt. Feltrinelli, der schon lange einen Staatsstreich von rechts befürchtet hatte und im Attentat der Piazza Fontana eine Parallele zum Reichstagsbrand sah, reagierte, indem er in die Illegalität ging. Anfang 1970 verkündete er in einem Brief an die Presse »das Ende der demokratischen Illusionen« und gründete eine klandestine Organisation, die GAP (Gruppo d’Azione Partigiana) , die in seinen Augen den Befreiungskrieg der Resistenza zu Ende führen sollte. Nach verschiedenen kleineren Aktionen ereignete sich am 14. März 1972 der tragische Vorfall von Segrate. Bei einer Sabotageaktion gegen einen Hochspannungsmast in der Nähe von Mailand kam es vermutlich zu einer vorzeitigen Explosion der Sprengladung. Unter dem Mast wurde die Leiche eines Mannes gefunden. Schnell stellte sich heraus, dass es sich bei dem Toten um den berühmten Verleger handelte.
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