»Die Balletttruppe ist einmalig. Wunderbare Tänzer. Immerhin sind sie ein Aushängeschild unserer Föderation.«
Grinsend tätschelte der Präsident die Skulptur. »Mag sein, Boris Jewgenij.« Er nahm seine Hand von der Skulptur, trat an einen Tisch und stellte sein fast jungfräuliches Sektglas dicht an die Kante. »Doch ... soviel ich weiß, wurde dem letzten Ballettchef ein Fläschchen scharfer Säure ins Gesicht gekippt. Was muss ich davon nur halten?«
»Es soll ein Kampf um seinen Posten gewesen sein«, erklärte Jerchow kleinlaut, der dem Präsidenten gehorsam hinterherschlich. »Und es ist wirklich schade um das Gesicht eines anmutigen und weltbesten Tänzers.«
»Nun was? Ich bin das Aushängeschild dieser Nation. Keineswegs er.« Mehr fiel dem Präsidenten dazu nicht ein und so wechselte er urplötzlich das Thema. Sehr zum Erstaunen des Beraters gab er den Namen »Wolkowa« von sich.
»Wolkowa?« Jerchow errötete unübersehbar derb. »Wie bitte?«
Die verächtlichen Blicke des Präsidenten trafen den Berater. »Jekaterina Ruslanowna Wolkowa. Wer ist das?«
Jerchow zögerte die Antwort hinaus. Zunächst musste er in Erfahrung bringen, was der Präsident tatsächlich wusste. »Keine Ahnung«, sprach er und schaute sich Hilfe suchend um. Hilfe wurde ihm jedoch nicht gewährt. »Dieser Name sagt mir gar nichts.«
Der Ballettchef betrat den Raum, in seinem Tross folgten der Chorleiter und der Dirigent.
»Du kannst jeden Idioten belügen. Doch solltest du es dringlich vermeiden, mich als Idioten anzusehen. Nikita Schirjajew hat uns informiert und zunächst dafür gesorgt, dass der Bericht nicht in den Zeitungen auftaucht. Doch lange werden unsere sensationssüchtigen Medien-Gurus derartig imposante Dinge nicht verdeckt halten wollen. Um die Regierung sauber zu waschen, mein lieber Boris Jewgenij, wird ein kleines Fläschlein Säure mit Sicherheit nicht ausreichen.« Er hob die Arme und verlieh seinem Gesicht ein strahlendes Lächeln. »Also bring das schleunigst in Ordnung!«, zischte er, schritt auf den Ballettchef des Bolschoi-Theaters zu und rief unüberhörbar laut: »Mein lieber Ilja! Wieder einmal kennt meine Begeisterung keine Grenzen! Was war das nur für eine geniale Aufführung, mein Bester! Woher nimmst du nur all die Kraft angesichts einer solchen Leistung des Ensembles?« Er schielte auf die anwesenden Journalisten. »Um es in druckreife Worte zu fassen: Ich sah einen beispiellosen Spitzentanz, athletische Sprungkraft und solch streng synchrone Bewegungen, dass sich unser Militär eine große Scheibe davon abschneiden sollte. Bravo, mein Lieber, bravo! Einfach entzückend!«
Berater Jerchow versteckte derweil die zitternden Hände in den Hosentaschen und versank in unangenehmen Gedanken. Was hatte Nikita Schirjajew, der Redakteur der Moskowskie Nowosti, dem Moskauer Nachrichtenblatt, mit der Wolkowa zu tun? Sollte die Wolkowa, diese dreckige Schlampe, ihre Drohung wahr gemacht haben? Eines war Jerchow völlig klar: Würden die Abtrünnigen von der Novaya Gazeta, der regierungskritischen Neuen Zeitung, von seinem Fehltritt erfahren, dann würde ihm auch Gottes Gnade nicht mehr helfen. Gedankenfetzen schmerzten im kahlköpfigen Schädel des Beraters und er beschloss, in die Person Schirjajew zu investieren. Jeder wusste, dass dieser Redakteur kleinen und großen Geldgeschenken aufgeschlossen gegenüberstand.
Es war vor etlichen Monaten geschehen. Und noch immer war das Gras nicht in der Lage gewesen, über diese dumme Sache zu wachsen. Welch ein Schrecken ohne Ende! Hätte er der Wolkowa gleich die Kehle durchschneiden lassen, wäre alles längst gut.
An jenem Abend hatte sich Jerchow volllaufen lassen, wohl wissend, dass der Tag erledigt war. Im Komanebel erreichte Jerchow dennoch ein Anruf aus dem Kreml. Eine eskalierende Problemsituation! Präsidentenberater Jerchow war dermaßen besoffen, dass er es unterließ, den Fahrer vom Sicherheitsdienst herbeizurufen. Er bestieg seinen Mercedes und fuhr selbst, wenn man das, was er tat, überhaupt Fahren nennen durfte. Erinnerungen an diese Fahrt gab es für ihn keine, lediglich die Berichte dritter Personen.
Jedenfalls kollidierte er auf der Gegenspur der Moskauer Rubljowo-Uspenskoje-Chaussee frontal mit einem fremden Fahrzeug, trug selbst nur weniger bedeutsame Kratzer davon und schlief nachfolgend im Krankenhaus in erster Linie den Rausch aus. Der Fahrer des anderen Wagens jedoch war sofort tot – ein unbedeutender Arbeiter aus dem Moskauer Stadtteil Tushino namens Jurij Jewstignejewitsch Wolkow. Einer von jährlich achthundert Verkehrstoten in Moskau. Dummerweise war der Dreißigjährige verheiratet und hatte seiner Frau Jekaterina Ruslanowna Wolkowa zwei Kinder gemacht. Und diese Frau wurde unmittelbar nach der Kollision von einem völlig verblödeten Polizisten davon überzeugt, ihn, den Berater des Präsidenten, anzuzeigen! Und das, obwohl sie sich bei dem Unfall selbst gerade mal ein Handgelenk gebrochen hatte. Ihre Kinder weilten zum Glück nicht im Unfallfahrzeug.
Viele Valutascheine mussten in fremde Taschen wandern, bis die Anzeige endlich vom Tisch war und sich niemand mehr an den Unfallablauf erinnern konnte. Das größte Problem, die Wolkowa, musste separat überzeugt werden. Er ließ fortan monatlich einige Spesengelder auf deren Konto umleiten, so dass es ihn nicht sonderlich traf. Doch im Februar, vor zwei Monaten, waren seine Inlandskonten geprüft worden und die Quelle war aus steuerrechtlichen Belangen versiegt. Die Frau sollte sich angeblich drohend bei ihm gemeldet haben, jedoch interessierten deren Probleme einen Mann von Jerchows Rang nur peripher.
Und nun? Würde tatsächlich ein Zeitungsbericht erscheinen, könnte der Präsident ihn abstürzen lassen, es wäre im unangenehmsten aller Fälle durchaus denkbar, dass man ihm gar den Prozess machen würde. Eines war gewiss: Hin und wieder gaukelte die Regierung dem Volk ein wenig Gerechtigkeit vor, versuchte dies zumindest, um andere Dinge in den Hintergrund zu drücken. Freiwillige Bauernopfer waren daher gern gesehen.
Erinnerungen in Form von Zeitungsbildern vom säurezerfressenem Gesicht des Ballettchefs des Moskauer Bolschoi-Theaters tauchten in Jerchows Gehirnwindungen auf. Unangenehme Bilder.
*
Jerchow wohnte mit seiner Frau Olga Timurowna Jerchowa und dem jüngsten, dem zweiundzwanzigjährigen Kronprinzen namens Ignatij in einer Luxusvilla an der Rubljowo-Uspenskoje-Chaussee, ein paar Villen von einem der Häuser des Präsidenten entfernt. Die anderen beiden Kinder, zwei Mädchen, verdingten sich in lukrativen, staatsnahen Berufen und lebten längst mit ihren Familien in eigenen Häusern. Neben einem Gärtner beschäftigte Jerchow mehrere Mitarbeiter einer Reinigungsfirma und etliche private Sicherheitsleute, von denen zu jeder Tages- und Nachtzeit mindestens drei auf dem Grundstück weilten. Besonders abgesichert war ein Raum im Keller der Villa, der einerseits als Panic-Room herhalten konnte, gegenwärtig jedoch zur Aufbewahrung seiner umfangreichen Sammlung von Goldmünzen diente.
Der Hausherr stand – noch immer in Arbeitskleidung, einem noblen, eigens für ihn angefertigten Anzug – im großen, nach westlichem Standard eingerichteten Wohnraum im unteren Geschoss, hatte der Gattin soeben einen Kuss auf die Wange gegeben und nahm nun das Haustelefon zur Hand. »Kostja?«, brummte seine tiefe Stimme. »In mein Büro! Sofort!« Er legte das Telefon zur Seite und gab der Frau an der Küchenzeile zu verstehen: »Ich will jetzt nicht gestört werden.«
Die sichtlich angetrunkene Jerchowa nickte ihm lächelnd nach, während er das Büro betrat, das anfänglich als Fernsehzimmer gedacht gewesen war und einen separaten Ausgang zur Gartenterrasse besaß. Vor dieser Echtholztür stand bereits der bullige Konstantin Bobrow, ein zweiundzwanzigjähriges Milchgesicht, einen Meter vierundsiebzig groß, mit einem durchaus ansehnlichen, künstlich gebräunten Kämpferkörper versehen.
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