Ganz auf sich gestellt konnte er in den Monaten April und Mai nicht überleben, denn auf den Feldern gab es noch nichts zu ernten und an den Bäumen und Sträuchern kein Obst zu pflücken. Auch besaß Jahn weder Gewehr noch Pfeil und Bogen, um ein essbares Tier zu erlegen. Also musste er sich immer wieder bei Bauern verdingen und im Stall und auf den Feldern helfen. Fragte man ihn nach dem Grund seiner Reise, dann gab er an, als Scholar unterwegs zu sein, als fahrender Student, und nannte stets einen anderen Namen, weil er annehmen musste, dass die Obrigkeit nach ihm fahndete. Nur einmal geriet er in eine brenzlige Situation, als er bei Tangermünde über die Elbe setzte und den Schiffer notgedrungen um das Fährgeld prellen musste. Er hatte nicht einmal die kleinste Münze in der Tasche, und durch den Strom zu schwimmen, wagte er nicht, denn dazu war das Wasser zu kalt. Er hatte mit der Elbe schon einmal schlechte Erfahrungen machen müssen.
Eigentlich hätte er in diesen Wochen als freier Mann viel glücklicher sein müssen als zuvor am Gymnasium. Doch Jahn hatte schnell erkannt, dass ihn seine Wanderschaft vom Regen in die Traufe geführt hatte. Arm und einsam durch die Lande zu ziehen war nun auch nicht das wahre Leben. Jahn träumte davon, nach Amerika auszuwandern. Über die Pilgerväter hatte er viel gelesen, ebenso über den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, der 1775 seinen Anfang genommen hatte. Die dreizehn Kolonien von Massachusetts im Norden bis hinunter nach Georgia kannte er alle beim Namen, und er war davon überzeugt, dass sich die Vereinigten Staaten im nächsten Jahrhundert immer weiter ausdehnen würden, bis sie am Pazifik angekommen waren. Dort gab es weites Land, wo man frei leben konnte. In Amerika würde er Tiere in den Wäldern erlegen und Fische in Flüssen und Seen fangen. Aber Preußen war sein Vaterland und das Deutsche seine Muttersprache. Beides aufzugeben erschien ihm noch schlimmer als Fahnenflucht. Also würde er wohl hier bleiben, auch wenn er sich weiterhin nach Amerika sehnte. Angesichts dieser Zerrissenheit suchte er bisweilen Trost im Gebet, so zum Beispiel in einem Vers des 119. Psalms: Siehe, ich liebe deine Befehle; Herr, erquicke mich nach deiner Gnade.
Eines Tages kam er – war es nun Zufall oder Gottes Wille – nach Hindenburg, einem kleinen Ort am Südrand der altmärkischen Wische. Zwanzig Kilometer südlich lag Stendal und sieben Kilometer östlich das Elbufer. Eine Weile musste Jahn darüber nachdenken, wann ihm der Ort Hindenburg schon einmal untergekommen war, dann fiel es ihm ein: Einer seiner Mitschüler aus der Salzwedeler Zeit war hier zu Hause gewesen, Georg Friedrich Roth, damals sein einziger Freund. Kurz entschlossen fragte er nach ihm.
»Roth, so heißt unser Pfarrer«, erteilte man ihm Auskunft.
Und richtig, als er am Pfarrhaus angeklopft hatte, öffnete ihm der alte Klassenkamerad die Tür. Er verbrachte gerade ein paar Ferientage bei seinen Eltern. Sie begrüßten sich freudig. Pfarrer Roth nahm Jahn gern bei sich auf, nachdem der ihm erzählt hatte, dass er auf dem Weg von Berlin nach Göttingen sei, um sich dort an der Universität einzuschreiben. »Früher wollte ich Advokat werden, aber nun möchte ich Theologie studieren, um das Erbe der Väter zu bewahren. Ich habe das Gelübde abgelegt, den ganzen Weg zu Fuß zurückzulegen, um Buße zu tun für alle meine Sünden.«
»Das ist sehr löblich, mein Sohn! Du kannst gern ein paar Tage bei uns bleiben, um neue Kraft zu schöpfen.«
Aus den wenigen Tagen wurden indes etliche Monate, denn kaum hatte sich Jahn in der ihm zugewiesenen Dachkammer häuslich eingerichtet, befiel ihn eine merkwürdige Krankheit. Zuerst fühlte er sich unsagbar matt und litt unter Kopfschmerzen und Verstopfung, dann begann sein Fieber in Stufen zu steigen, wobei sein Herz so langsam schlug, dass er fürchtete, es bleibe stehen. Auf der Haut begann sich rötlicher und in Flecken auftretender Ausschlag zu zeigen, und seine Zunge war auffallend grauweißlich belegt, nur die Spitze leuchtete rot. Das alles hätte den Pfarrer Roth und seine Frau nicht so sehr geängstigt, hielten sie die Symptome doch für die Anzeichen einer heftigen Influenza, wenn Jahn nicht plötzlich begonnen hätte zu phantasieren. »Der Wal kommt … die Elbe herauf … Ich nehme meine Lanze, denn ich komme aus Lanz … Ich bin ein Landsmann. Wehe denen, die Böses gut und Gutes böse heißen … Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm!«
»O Gott!«, rief Pfarrer Roth entsetzt. »Er hat das Nervenfieber. Georg Friedrich, wir müssen sofort anspannen und nach Salzwedel fahren, den Arzt holen.«
Der Mediciner hatte bald eine Diagnose gestellt. »Es ist Typhus.«
»Was hilft dagegen?«, fragte die Pfarrersfrau.
»Nur noch beten.«
Da traf es sich gut, dass Jahn in ein Pfarrhaus geraten war. Langsam schien er die Krankheit zu besiegen.
Als es ihm schon wieder etwas besserging, stand eines Tages sein alter Freund Philipp Pulvermacher an seinem Bett. »In Salzwedel erzählt man sich, dass du hier in Hindenburg gestrandet bist. Du machst Sachen! Erzähl mal, wie es dir in der letzter Zeit ergangen ist!«
Pulvermacher setzte sich und hörte zu, ohne Jahn zu unterbrechen. Erst wenn der Freund am Ende angekommen war, wollte er seine Fragen stellen.
» … und nun liege ich hier und bin dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen.«
»Was ein Beweis dafür sein dürfte, dass der Herr noch Großes mit dir vorhat«, sagte Pulvermacher, ohne selbst zu wissen, ob das ironisch oder ernst gemeint war. »Aber ich denke, er wird sein Antlitz nur über dir leuchten lassen, wenn du gleich nach deiner Genesung zu deinen Eltern gehst, die sich ganz sicher furchtbar grämen. Hast du ihnen nach deinem vorgetäuschten Selbstmord einmal geschrieben?«
Statt zu antworten, brach Jahn in Tränen aus.
In Lanz wie im nahen Lenzen sprachen alle, welche die Geschichte des vermeintlichen Freitods kannten, von den »leidgeprüften Eltern«, wenn sie von Alexander Friedrich Jahn und seiner Frau Dorothea Sophie redeten. Die waren zwar glücklich, dass ihr Sohn noch lebte und nach Hause zurückkehrt war, aber auch voller Verzweiflung darüber, dass er sein Leben offenbar schon verspielt hatte.
Die Mutter hatte die Hände gerungen und ausgerufen: »Was soll nur aus ihm werden?«
Der Vater hatte Friedrich Ludwig schweigend begrüßt, kein zorniges Wort war von ihm zu hören gewesen. Dazu glaubte er als Pfarrer zu sehr an den Willen Gottes. Auch hatte er gefühlt, dass den Sohn ein unbegreiflicher Optimismus erfüllte. Stand dahinter wirklich nur der unerschütterliche Glaube an sich selbst? In einer ruhigen Stunde fragte er ihn.
»Nun«, antwortete Friedrich Ludwig Jahn nach einer Weile des Nachdenkens, »hier zu Lande glauben alle, lieber Vater, dass die Geschichte stillsteht, aber das tut sie nicht. Denkt an die Revolution in Frankreich vor sieben Jahren! Ihre Wellen haben Preußen zwar noch nicht erreicht, aber sie werden sich nicht aufhalten lassen, ganz bestimmt nicht.«
»Das sagst du, Friedrich Ludwig, obwohl du die Franzosen nicht magst?«
»Gleichviel, die Flut wird irgendwann über Europa hereinbrechen und alles umstürzen. Es wird große Zeiten geben, in denen die Stunde für Männer wie mich gekommen ist.«
Alexander Friedrich Jahn war beeindruckt von so viel Zuversicht und innerem Feuer, konnte aber die Frage nicht zurückhalten, was der Sohn bis dahin zu unternehmen gedenke.
»Ich studiere natürlich Theologie!«, sagte der ohne Zögern.
»Wie willst du das anstellen, ohne das Gymnasium abgeschlossen zu haben?«
»Ach, in Halle werden sie das gar nicht merken. An vielen Universitäten muss man nicht einmal unbedingt eine Maturitätsprüfung vorweisen.«
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