»Ob der alte Sack auch zu Tisch gebeten wird?«, hatte Jahn gefragt, und Spalding hatte ein böses Gesicht gemacht, ihn aber für diese Worte nicht bestrafen können, denn auch Sacks Vater war Hofprediger gewesen.
»August Friedrich Wilhelm Sack ist bereits 1786 vom Herrn in die Ewigkeit heimgeholt worden.«
Als Entree wurde eine Bärlauchsuppe aufgetragen. Die duftete so verführerisch, dass die Jungen kaum das Ende des Tischgebets abwarten konnten, um zum Löffel zu greifen. Doch kaum hatten sie ihn zum Munde geführt, drangen von der Straße her Hochrufe ins Zimmer.
»Der König kommt vorüber!«, rief Sack, und alles eilte ans Fenster.
Da war der Moment gekommen, in dem Jahn seinem verhassten Mitschüler unbemerkt das Abführmittel ins Essen schütten konnte. Schnell verrührte er es. Als Lankkord seine Bärlauchsuppe ausgelöffelt hatte, verspürte er ein heftiges Bauchgrimmen und schaffte es, auch wegen der fremden Umgebung, nicht mehr bis auf den Abort. Obwohl ihm die Dienstboten bei der Säuberung seiner Hose behilflich waren, ließ sich eine gewisse olfaktorische Nachwirkung nicht ganz vermeiden.
»Riechst du nun eher nach Kuh- oder eher nach Schweinestall?«, fragte ihn Jahn. Er war auf diesen Streich sehr stolz und erzählte gleich am darauffolgenden Tag seinem Freund Philipp Pulvermacher davon, der mit seinem Vater nach Berlin gekommen war, um den siebzigsten Geburtstag eines nahen Verwandten zu feiern. »Ist das der Geburtstag des reichen Bierbrauers?« Jahn hatte schon ein paar Mal von dem Mann gehört.
»Ja, Onkel Joachim Friedrich feiert, der ältere Bruder meines Vaters. Die beiden sind sich nicht besonders grün, mich aber hat er in sein Herz geschlossen.«
Die beiden Freunde redeten nun über ihren Schulalltag.
»Hast du mit den Lehrern hier in Berlin weniger Zank als mit denen in Salzwedel?«, wollte Philipp Pulvermacher wissen.
»Eigentlich nicht«, musste Jahn gestehen.
Wenig später gelang es ihm sogar, auch Franz Steinhauser zu verärgern, der bislang immer auf seiner Seite gestanden hatte.
»Wir schreiben das Jahr 1795 seit Christi Geburt«, begann Steinhauser, als es um das Thema eines Aufsatzes ging, der an diesem Vormittag zu schreiben war. »Bis heute hat es auf der Welt schon viele große Männer gegeben.«
»Die Frauen nicht zu vergessen!«, rief Jahn dazwischen. »Zum Beispiel Maria, die Mutter unseres Herrn Jesus Christus. Oder die Königin Dido, die Karthago gegründet hat. Kleopatra, Hildegard von Bingen, Katharina die Große … «
Steinhauser blieb ruhig. »Danke für die Belehrung, Jahn! Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob das Euren Mitschülern bei der Wahl ihres Vorbildes hilft. Das Thema unseres Aufsatzes lautet: Welcher große Mann wärt Ihr gern gewesen? Mit Begründung!«
Das löste schallendes Gelächter aus, und Jahn war blamiert. Er überlegte, ob er nicht Maria Theresia nehmen und schreiben solle, er habe in geheimen Unterlagen gelesen, dass sie eigentlich ein Mann gewesen sei, ließ es dann aber, weil er Steinhauser eigentlich gern hatte. Als er auf die Konzeptblätter der anderen sah, konnte er die Namen des Philosophen Sokrates, des Feldherrn Miltiades und des Königs Friedrich des Großen lesen. Aber das gefiel ihm alles nicht. Ich bin ich, dachte er, das reicht vollkommen. Ich will mir nicht vorstellen, ein anderer zu sein. Und so schrieb er statt eines langen Aufsatzes mit vollständiger Gliederung nur einen Satz auf sein Blatt: Ich kann und will diese Wahl nicht treffen, weil darin ein moralischer Selbstmord liegt.
Franz Steinhauser musste den ganzen Abend darüber nachdenken, was Jahn wohl damit gemeint hatte. Wenn jemand von Selbstmord sprach, schreckte er ein jedes Mal auf, zu deutlich stand ihm Goethes Werther vor Augen. Friedrich Ludwig Jahn war zwar seines Wissens nicht unsterblich in eine Frau verliebt, aber auch er war ein Rebell und Freigeist. Jahn hätte gut in Schillers Räuber gepasst, als Freund von Karl Moor.
Am darauffolgenden Sonntagmorgen, dem 2. April 1795, hatte Steinhauser diese Angelegenheit wieder vergessen, denn die Vorbereitungen auf seinen Unterricht nahmen ihn voll und ganz in Anspruch. Sie fiel ihm erst wieder ein, als er die Unterprima betrat und Jahn nicht entdecken konnte, weder auf seinem angestammten Platz noch anderswo im Klassenzimmer.
»Hat jemand Jahn gesehen?«
»Nein.«
»Wahrscheinlich ist er erkrankt.«
Steinhauser war nicht beunruhigt, als Jahn aber auch am nächsten Tag nicht im Gymnasium erschien, ging der Lehrer doch zum Rektor, um ihn von der Abwesenheit des Schülers in Kenntnis zu setzen.
Gedike war gar nicht wohl, als er das hörte. Hatte Jahn sich wirklich das Leben genommen, geriet der gute Ruf seiner Anstalt schnell in Gefahr. Und wie sollte er Jahns Vater beibringen, dass sein Sohn freiwillig aus dem Leben geschieden war? Aber noch war nichts bewiesen. »Forscht sofort bei seinen Wirtsleuten nach!«
Nach Schulschluss machte sich Steinhauser also auf den Weg zur Stallschreibergasse. Dort angekommen, schienen sich seine schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen.
»Friedrich Ludwig hat am Sonntagmorgen das Haus verlassen und ist seitdem nicht wiederaufgetaucht. Wir dachten, dass er in der Schule übernachtet hat oder vielleicht nach Lanz zurückgegangen ist.«
Man schickte mit der schnellsten Post einen Brief nach Lanz, aber aus der Prignitz kam die Antwort, dass Friedrich Ludwig dort nicht eingetroffen sei.
»Los!«, entschied Gedike, als er das hörte. »Man sage dem Criminal-Commissarius Bescheid und lasse Jahn suchen!«
Die Polizei fand nach längerer Suche Jahns Kleidungsstücke an der hölzernen Brücke über dem Floßgraben, die beim Volke Leichenbrücke hieß, weil viele Leichenwagen sie auf ihrem Weg zu den Friedhöfen außerhalb der Stadtmauern überquerten.
»Wahrscheinlich konnte er das Schwimmen wieder einmal nicht lassen«, vermutete einer der Lehrer. »Er wird dabei ertrunken sein. Es ist auch noch viel zu kalt dazu.«
»Ich befürchte eher, dass er sich ein Beispiel an Werther genommen hat«, sagte Steinhauser.
»Ach was!«, ließ sich der Hebräisch- und Griechischlehrer Spalding vernehmen. »Der Kerl führt uns doch alle hinters Licht! Der hat den Freitod nur vorgetäuscht, damit endlich einmal alle von ihm reden.«
Gedike wusste nicht, wem er recht geben sollte, denn alle Meinungen klangen plausibel. Erst am 8. Mai 1795, mehr als fünf Wochen nach Jahns Verschwinden, ließ er eine Anzeige in das Neue Berliner Intelligenzblatt setzen, in der er die Bevölkerung ersuchte, von dem etwaigen Auffinden des Leichnams ihm Anzeige zu machen. Gleichzeitig aber bat er Jahn, solle er noch am Leben sein, sich bei ihm zu melden. Er habe mit keinerlei Nachteilen zu rechnen.
Friedrich Ludwig Jahn wanderte zu dieser Zeit durch die Mark Brandenburg. Zwar lief er westwärts, doch sein Ziel hieß keineswegs Lanz. Er wusste, dass seine Eltern sich um ihn sorgen würden, und es tat ihm leid, dass er ihnen solchen Kummer bereiten musste, aber er dachte immer nur im Sinne Martin Luthers: Hier gehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen! Er versuchte sein Handeln auch damit zu rechtfertigten, dass sein Vater ihn zum Besuch der Gymnasien in Salzwedel und Berlin gezwungen habe. Was hasste er diese Schulkasernen! Dort durfte er nicht selbst denken und sich nicht aussuchen, was er lernen wollte. Stattdessen bekam er wie mit einem Trichter den Stoff in den Kopf gefüllt, den sich die Herren Lehrer willkürlich ausgesucht hatten. Aber jetzt war er endlich frei! Und wenn er auch nicht viel Griechisch gelernt hatte, so wusste er doch, was ἀναρχία, mit lateinischen Buchstaben anarchia geschrieben, bedeutete: die Herrschaftslosigkeit. Jahn fühlte sich schon im Jahre 1795 als Aufrührer, was er aber streng genommen gar nicht war, da er das Königreich Preußen und den Staat als solchen nicht in Frage stellte.
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