»Ich wollte Gerechtigkeit walten lassen«, antwortete dieser. »Wenn mich keiner der Lehrer in Schutz nimmt, muss ich mich eben selbst wehren. Außerdem wissen jetzt alle, was das Pankration ist.«
»Was bitte?«, fragte Wolterstorff.
»Das ist eine Kombination aus Boxen und Ringen, die bei den Olympischen Spielen im alten Griechenland ausgetragen wurde. Dass Ihr das nicht wisst!«
»Jahn, das gibt zwei neue Einträge ins Strafbuch!«
Den kümmerte das wenig. Er glaubte, dass all seine Handlungen dem Willen Gottes entsprangen, hatte er doch unzählige Male gebetet: » Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel. «
Der einzige Schüler aus seiner Klasse, mit dem er sich ein wenig anfreundete, war Georg Friedrich Roth. Der kam aus Hindenburg in der Altmark, einem Dorf, das noch kleiner war als Lanz. Aber das war eigentlich ohne Belang.
Nicht nur mit dem Lehrer Helffensfrieder legte sich Jahn ständig an, sondern auch mit anderen Pädagogen, allen voran Heinrich Dürzer, einem äußerst gemeinen Mann, der ihn immer wieder vorzuführen und zu diminuieren suchte.
Als Dürzer einmal den Klassenraum betrat, schrie er auf, denn ein Schüler, der aus Hameln stammte, hatte in einem Anfall von Heimweh den Rattenfänger gemalt, allerdings nicht mit den davonziehenden Kindern, sondern mit einer Schar von besonders hässlichen Ratten. »Wischt das weg!« Mit abgewandtem Gesicht wartete Dürzer, bis das Bild nicht mehr zu sehen war. Auch im Anschluss hatte er noch Mühe, Haltung zu bewahren. Er betrachtete sich wegen seiner Rattenphobie als Schwächling und suchte das zu überspielen, indem er sich nun vor der Klasse umso härter zeigte. Als Erstes bekam der Zeichner einen Eintrag ins Strafbuch, dann stürzte sich Dürzer auf Jahn, der besonders impertinent gegrinst hatte. »Jahn, übersetzt! His nuntiis litterisque commotus Caesar duas legiones in citeriore Gallia novas conscripsit et inita aestate in ulteriorem Galliam qui deduceret Q. Pedium legatum misit. «
Jahn stand auf und bekundete, bei seinem Vater und dem Hauslehrer Schmellwitz zu wenig Latein gehabt zu haben, um sich an Caesars De Bello Gallico heranwagen zu können.
»Ihr versucht es!«
»Ähm … Sein Nuntius schrieb Caesar einen Brief … einen Brief, dass die Legionen in Gallien zittern würden … «
Dürzer bog sich vor Lachen. »Le monde n’a jamais vu un tel imbécile!«
Das konnte Jahn sehr wohl übersetzen. »Die Welt hat noch nie einen solchen Dummkopf gesehen!« Er murmelte, dass er sich dafür rächen werde.
»Stampeel, macht Ihr weiter!«
»Die Berichte und Briefe veranlassten Caesar, zwei neue Legionen im diesseitigen Gallien auszuheben und zu Beginn des Sommers dem Legaten Q. Pedius den Auftrag zu geben, sie in das Innere Galliens zu führen.«
»Jahn, diese Sätze schreibt Ihr Euch in Euer Kollegheft!«
»Ich führe kein Kollegheft. Mein Gedächtnis ist so vortrefflich, dass ich solcher Tintenkleckserei nicht bedarf.«
»Euren renitenten Geist werden wir Euch schon noch austreiben!«
Jahn lächelte. »Das schafft einer wir Ihr ganz sicher nicht!«
»Ab mit Euch!«
So wanderte Jahn wieder einmal in den Karzer und bekam einen weiteren Eintrag ins Strafbuch des Salzwedeler Gymnasiums.
Nachtragend war er nicht, aber Dürzers Bemerkung von dem Dummkopf, den die Welt noch nicht gesehen habe, wollte er nicht auf sich sitzen lassen. Lange dachte er darüber nach, wie er dem Lateinlehrer am besten eins auswischen konnte, aber ihm wollte nichts Rechtes einfallen. Schließlich kam ihm der Zufall zu Hilfe. Sein Quartiersgeber, der Leinenweber Witte, kämpfte schon seit einiger Zeit gegen die Wanderratten in seinen Kellerräumen, die sich schneller vermehrten, als er sie erschlagen konnte. Witte hatte schließlich eine Falle konstruiert. Aber nur selten fand sich ein Nager darin, denn die Ratte als solche war unglaublich klug. Hatte der Leinenweber doch eine gefangen, übergoss er sie mit Rübenöl und steckte sie an. Das arme Tier schrie und quiekte dann derart erbärmlich, dass alle anderen Ratten in Panik aus dem Keller flohen und die Botschaft weitergaben, diese Stätte in Zukunft tunlichst zu meiden. Das half so lange, bis die Warnung in einer nachfolgenden Generation verlorenging.
Wieder einmal war es so weit, und Witte konnte seiner Leidenschaft als Kammerjäger nachgehen. Diesmal sogar mit überraschendem Erfolg, denn in seiner Falle steckten gleich zwei Ratten. Es waren ausgewachsene Exemplare von stattlicher Größe. Der Hausherr rief seine Arbeiter herbei, sie zu bewundern und ihn zu beglückwünschen. Auch Jahn eilte in den Keller. Beim Anblick der Tiere dachte er sofort an Dürzer – und schon wusste er, wie er sich an dem Lehrer rächen konnte. »Ihr braucht zum Anstecken nur eine«, sagte er zu Witte. »Könnt Ihr mir die andere geben?«
»Wozu denn?«
»Ich will mit ihr ein kleines Experiment machen.«
Da Witte annahm, dass der Junge sich als Tierarzt ausprobieren wollte, trieb er eine der zwei Ratten in einen Blechkasten und schenkte sie Jahn. Der wartete ab, bis es dunkel geworden war, und schlich sich dann zur Steinthorstraße, wo Heinrich Dürzer, der alleinstehend war, eine kleine Wohnung angemietet hatte. Das Glück war auf Jahns Seite, denn das Schlafzimmerfenster stand zum Lüften weit offen. Es war ein Kinderspiel, den Blechkasten zu öffnen und die Riesenratte zu entlassen. Schnell waren die Fensterflügel zugezogen, und dann lief Jahn, so schnell er konnte.
Etwa fünf Minuten später hallte ein Schreckensschrei durch die stille Steinthorstraße. Heinrich Dürzer lag zwei Tage lang mit einem Schock danieder.
Als sich Alexander Friedrich Jahn auf den Weg zu seinem Sohn machte, war er recht frohgemut. Wolterstorff hatte ihm in einem Brief geschrieben, er möge baldmöglichst in Salzwedel vorbeischauen.
»Sie werden den Jungen in die nächsthöhere Klasse stecken wollen«, hatte Dorothea Sophie beim Abschied zu ihrem Mann gesagt. »In die Quarta, wo Philipp schon ist.«
»Das glaube ich auch. Irgendwann mussten sie in Salzwedel merken, dass unser Sohn allen überlegen ist.«
So fiel er aus allen Wolken, als der Rektor nach ein paar einleitenden Floskeln zum Thema kam. »Der Grund, aus dem ich Euch, lieber Freund, nach Salzwedel gebeten habe, ist die Sorge um Friedrich Ludwig. Bitte, gebt ihn auf eine andere Schule! Er will hier nicht recht gedeihen.«
»Wie?« Vater Jahn glaubte, nicht richtig gehört zu haben.
Wolterstorff wollte den Pfarrer nicht verletzen und ihm deshalb nicht offen ins Gesicht sagen, dass man den Störenfried endlich loswerden wolle. Nur sehr verklausuliert und diplomatisch legte er dar, was ihn und das Kollegium bewegte. »Unser Schulalltag ist auf Ruhe und Ordnung ausgelegt, niemand darf abweichen vom festgelegten Pfad. Das entspricht jedoch nicht der Natur Eures Jungen. Sein Freiheitsdrang ist nicht zu bändigen, und er hat ein so ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl, dass dem niemand Genüge tun kann, so leid es uns tut.«
Alexander Friedrich Jahn konnte nun nicht mehr an sich halten. »Wozu sind Pädagogen denn da? Doch dazu, um Menschen wie meinen Sohn zu formen!«
Nun wurde Wolterstorff doch deutlicher. »Das hat hier keiner geschafft. Euer Sohn reizt alle mit seiner Schroffheit und seinem trotzigen Geist. Er ist grüblerisch und macht die Lehrer mit seiner Rechthaberei rasend. Wenn ihm etwas gegen den Strich geht, fährt er sofort auf. Oft ist er derart überspannt, dass ich ihn in den Kerker verweisen muss.«
»Soll ich Eure Worte als Consilium Abeundi verstehen?«, fragte Alexander Friedrich Jahn.
»Ich bedauere sehr, dies bejahen zu müssen.«
3
Als Leiche im Schafgraben?
1794 – 1796
Die Berliner hatten gehofft, dass mit dem Tod Friedrichs II. bessere Zeiten für sie anbrächen. Doch der Neffe des verstorbenen Königs, der 1786 als Friedrich Wilhelm II. den Preußen-Thron bestiegen hatte, war auch nicht so recht nach ihrem Geschmack. Er wurde für einen Taugenichts gehalten und hieß im Volk bald »Der dicke Lüderjahn«. Der Alte Fritz hatte ihn als Dreijährigen zu sich ins Schloss geholt, um ihn erziehen zu lassen, den Neffen aber sehr zartfühlend behandelt, in der guten Absicht, die gestrenge Erziehung seines eigenes Vaters nicht zu wiederholen. Kurzum, sein Zögling entwickelte sich zu einem Lebemann und hatte schon früh mehrere Mätressen. Dann wurde er verheiratet. Von seiner ersten Frau ließ er sich bald wieder scheiden, und auch die Ehe mit der zweiten konnte nur als unglücklich bezeichnet werden. Friedrich Wilhelm II. hatte viele außereheliche Affären. Eine gewisse Wilhelmine Encke wurde zu seiner offiziellen Nebenfrau und entwickelte sich zu einer preußischen Madame de Pompadour. Die Berliner goutierten das, denn Skandal war immer noch das Süßeste, was sie aber störte, war die scheinbar zunehmende Verschrobenheit ihres Königs. Immer öfter tippten sie sich an die Stirn und sagten: »Der hat se ja nich mehr alle!« Grund dafür war der Okkultismus, dem sich Friedrich Wilhelm II. verschrieben hatte. Er war in den Bann des Ordens der Gold- und Rosenkreuzer geraten und eine Marionette der beiden Männer geworden, die dort das Sagen hatten: Johann Christoph von Woellner und Johann Rudolf von Bischoffwerder.
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