Sie blickte ihn an, nahm ihren Rucksack und ging zur Tür.
„Bis morgen, Herr Eichenhagen!“
2017
Eva und Christian hatten längst gefrühstückt, saßen aber noch in der Küche.
„Darf ich reinkommen?“
„Ja, sicher, Ingo!“
Er hatte lange geschlafen, in einem richtigen Bett, und hatte geduscht. Von der Größe her passten ihm Christians Sachen wie angegossen.
„Magst du Kaffee? Oder trinkst du lieber Tee?“
„Bitte Kaffee!“
Es war zu früh, Ingo zu fragen, was in seinem Leben schiefgelaufen war. Er sollte sich erst einmal erholen, zu sich kommen. Ingo aß gierig und hastig, ohne zu schmatzen. Von Zeit zu Zeit blickte er Eva und Christian an, dankbar lächelnd. Die beiden staunten nicht schlecht, was Ingo alles in sich hineinstopfte. Zu den vier Tassen Kaffee aß er fünf Brötchen, die ersten beiden mit Marmelade, die Eva selbst gemacht hatte, die anderen drei mit Käse. Danach machte er eine lange Pause.
„Danke, das tat gut! Wahrscheinlich wollen Sie jetzt meine Lebensgeschichte hören.“
„Immer mal langsam, das hat Zeit.“
„Nein, nein. Ich will es jetzt einmal versuchen, vielleicht erst einmal die Kurzversion. Haben Sie denn Zeit?“
„Die nehmen wir uns.“
„Darius und ich haben zusammen 1997 das Abitur gemacht. Ihr Sohn war ein brillanter Schüler, alle Fächer zwischen vierzehn und elf Punkten. Ich war ein eher schlechter Schüler und habe geradeso das Abitur geschafft.“
„Hast du auch studiert?“
„Mein Vater wollte, dass ich Jura studiere, weil er selbst Justiziar in einer großen Bank ist. Ich wollte ihm zu verstehen geben, dass ein Studium nichts für mich ist, aber er winkte nur enttäuscht ab. Ich habe dann eine Lehre in einer großen Speditionsfirma gemacht.“
„Und hast du die Lehre beendet?“
„Ja, zur Jahrtausendwende. Aber die Firma konnte mich nicht übernehmen.“
„Und dann?“
„Mein Vater sagte nur, er würde mich nur noch drei weitere Monate finanziell unterstützen.“
„Und deine Mutter?“
„Sie ist lieb, zu lieb für meinen Vater. Sie macht alles, was er sagt; sie will keinen Ärger, keinen Streit. Ich habe dann jahrelang einfache Jobs übernommen und in einer WG gewohnt: zwei Männer und zwei Frauen, das hat eigentlich recht gut geklappt.“
„Ingo, bist du mir sehr böse, wenn ich jetzt meinen Massagetermin wahrnehme? Sie tut meinem Rücken immer gut“, fragte Eva.
„Kein Problem, Frau Eichenhagen.“
„Vielleicht kannst du das alles heute Abend fortführen. Ich will auf jeden Fall dabei sein.“
1994
Er hatte Sabrinas Verhalten in den Monaten, die ihrem Gespräch folgten, beobachtet, aber er spürte keine negative Veränderung. Im Gegenteil: Wann immer es möglich war, lächelte sie ihn nach der Unterrichtsstunde an.
Heute war der zweite Tag, dass sie unentschuldigt fehlte.
„Weiß jemand etwas über Sabrina? Ist sie krank?“
Keiner wusste etwas, nur Marina, Sabrinas beste Freundin, schaute weg.
„Marina, Sabrina ist doch deine Freundin, weißt du etwas?“
Sie druckste herum: „Nicht wirklich.“
„Kann ich dich heute nach der sechsten Stunde sprechen?“
„Klar doch.“
Zum Glück hatte er eine Freistunde, so dass er Sabrinas Eltern anrufen konnte. Aber niemand meldete sich. Er sprach auf den AB.
Er war mehr als gespannt auf das Gespräch mit Marina.
„Weißt du etwas? Es ist ernst.“
Sie schaute auf den Boden, sagte nichts.
„Sind Sabrinas Eltern beide berufstätig?“
Dann platzte es aus Marina heraus.
„Sabrinas Mutter ist seit ein paar Jahren in der Psychiatrie. Ich weiß nicht, was sie genau hat.“
„Und ihr Vater? Wo arbeitet er?“
„Er arbeitet auf einer Baustelle. Und er schlägt Sabrina und …“
„Was heißt ‚und‘?“
„Na ja, er ist ein Mann und meint …“
Christian war erschüttert, ließ sich aber seine Wut nicht anmerken.
„Ich bin dir sehr dankbar, Marina.“
Er sah, dass Marina Tränen in den Augen hatte. Er nahm sich vor, am Nachmittag bei Sabrina vorbeizufahren.
Es kam häufiger vor, dass Christian nach dem Unterricht später nach Hause kam. Normalerweise war er recht entspannt, wenn er auf dem Fahrrad nach Hause fuhr. Er sagte selbst, dass er auf dem Fahrrad den Schulstress abstreifen konnte. Als Eva aus dem Küchenfenster schaute, hatte sie diesmal einen anderen Eindruck. Seine Miene war finster.
Sie empfing ihn an der Haustür mit einem Kuss.
„Was ist los? Du hast Sorgenfalten auf der Stirn.“
„Sorgen ist das richtige Wort.“
„Und?“
„Sabrina, eine Schülerin meiner Klasse, fehlt schon den zweiten Tag unentschuldigt.“
„Das kommt vor.“
„Ich habe mit ihrer Freundin gesprochen. Mit Sabrinas Vater stimmt etwas nicht.“
„Kann es etwas genauer sein?“
Er schwieg und aß die Linsensuppe. Meistens lobte er Evas Kochkünste, doch diesmal blieb das Lob aus.
„Ich trinke noch eine Tasse Kaffee und dann fahre ich zu Sabrinas Wohnung.“
Er hatte sich etwas frisch gemacht und war auf dem Weg zur Steinstraße. Die Nummer fünf war leicht zu finden, denn es war das einzige Gebäude, das fünf oder sechs Etagen hatte. Er schloss sein Fahrrad ab und suchte die Klingel. Die Familie schien in der zweiten Etage zu wohnen. Er schellte mehrmals, aber durch die Sprechanlage hörte er nichts. Er ging vor das Haus und suchte die Wohnungen in der zweiten Etage ab. An einem Fenster glaubte er das Bewegen des Vorhangs sehen zu können. Er schellte erneut. Die Sprechanlage war wohl an, denn er meinte ein Schluchzen hören zu können.
„Sabrina, ich bin’s. Eichenhagen, dein Klassenlehrer.“
„Ich mache Ihnen auf, Sie können den Aufzug benutzen. Zurzeit ist er mal nicht kaputt.“
„Danke! Ich nehme lieber die Treppe.“
Als er die Wohnung betrat, war er erschüttert. Alles war in Unordnung, überall lagen schmutzige Kleidungsstücke und leere Flaschen herum. Er kam auch an einem kleinen Zimmer vorbei, das aufgeräumt war. Wahrscheinlich war das Sabrinas Raum. Sabrina räumte einen Sessel frei und sagte: „Tut mir leid. Sie können sich hier hinsetzen.“
Während sie alles berichtete, musste sie immer wieder weinen.
„Dein Vater hat dich also immer wieder geschlagen und …“, er stockte, „wahrscheinlich hat er dir noch mehr angetan. Ich muss die Polizei holen.“
„Muss das sein?“
„Ich glaube schon. Irgendwann wird dein Vater heimkommen und dann geht’s wieder los.“
Sie suchte ein Taschentuch.
„Wahrscheinlich haben Sie recht. Und wie geht es dann weiter?“
„Ich weiß nicht genau. Aber ich bleibe bei dir, bis alles geregelt ist. Am besten packst du ein paar Sachen.“
Sie war auf dem Weg in ihr aufgeräumtes Zimmer, als er ihr hinterherrief: „Kann ich kurz meine Frau anrufen? Ich will nur sagen, dass es später wird.“
„Bedienen Sie sich, es ist in der Küche.“
2017
Als er abends spät nach Hause kam, war er überrascht. Nichts war aufgeräumt und in der Küche stand noch das Geschirr vom Morgen.
„Petra, wo bist du?“ Nichts. Als er ins Wohnzimmer ging, sprang ihm ein Brief auf dem Glastisch ins Auge. Auf dem Umschlag stand förmlich:
Für Herrn Max Bachmann
Gegen seine Gewohnheit riss er ihn auf und las: Lieber Max, wir sind jetzt mehr als 40 Jahre verheiratet und du gehst Ende Januar nächsten Jahres in den Ruhestand. Über Jahrzehnte habe ich ertragen müssen, dass du alles entscheidest, mich herumkommandierst, mich kontrollierst. Und das Schlimmste ist, dass wir wegen dir zu unserem eigenen Sohn, Ingo, keinen Kontakt mehr haben.
In deinen Augen ist er ein Nichtsnutz.
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