KÜCHENKRIEG UND KÜCHENFRIEDEN. KULINARISCHE GEMEINSAMKEIT UND REGIONALE TRADITION
In seinem Buch The Dream of Rome hat sich der britische Autor und Politiker Boris Johnson auf das Gebiet der Küchengeschichte gewagt und einen Vergleich zwischen Zuständen im Römischen Reich und in der Europäischen Union gezogen. Während römische Untertanen – schreibt er – ihre Mahlzeit überall im Reich mit der Fischsauce garum (Abb. 11 und 15) gewürzt hätten, herrsche in der Europäischen Union in kulinarischen Fragen völlige Uneinigkeit. Über garum (auf das wir später noch ausführlich zurückkommen) zeigt sich Johnson zwar nur wenig informiert; aber es ist doch richtig, wenn er feststellt: Behälter der Fischsauce, die ein Requisit der damaligen mediterranen Küche war, würden auf dem Boden des Römischen Reiches überall gefunden; und diese reichsweite Akzeptanz des Produktes zeige, dass die mediterrane Lebensweise für die Bewohner aller Provinzen Roms attraktiv gewesen sei.21
Tatsächlich hat sich aber nicht nur der Konsum von garum, sondern die mediterrane Küche als ganze über das gesamte römische Reichsgebiet verbreitet. Zur Romanisierung, d. h. zur Anpassung an die römische Lebensweise in neu annektierten Gebieten, gehörte so auch ein allgemeiner Wandel der Ernährungsgewohnheiten. Archäologisch ist dieser Vorgang, für den der Verfasser den Begriff der „kulinarischen Romanisierung“ vorgeschlagen hat, durch eine große Fülle von Beobachtungen zu belegen. Außer der reichsweiten Verbreitung von garum sind weitere Beispiele der florierende Handel mit Olivenöl, das in gewaltigen Mengen auch in Reichsgebiete importiert wurde, in denen der Ölbaum nicht wuchs; oder der Konsum von Meerestieren – wie etwa von Austern (Abb. 12) oder von Purpurschnecken – selbst im tiefsten mitteleuropäischen Binnenland. Ein leistungsfähiger Fernhandel sorgte überall für ein breitgefächertes Angebot mediterraner Lebensmittel; und die entsprechende Nachfrage ging von einer Gesellschaft aus, in der Konsumdenken schon eine beachtliche Rolle spielte.22
Abb. 11 Garumamphore aus Carnuntum (heute Petronell-Carnuntum/Bad Deutsch-Altenburg, Niederösterreich). Nach der Inschrift hatte der garum-Vorrat einem Hauptmann der Carnuntiner Garnison gehört. Archäologisches Museum Carnuntinum, Bad Deutsch-Altenburg.
Abb. 12 Bei der Bearbeitung der Austernfunde aus einer Grube im Legionslager von Vindonissa (heute Windisch, Kanton Aargau) ließen sich noch die Gehäusehälften von 35 Austern zusammensetzen (Thüry 2010). Da Muschelkonserven offenbar nur eine Gehäusehälfte enthielten, kann daraus der Schluss gezogen werden, dass man die Tiere lebend importiert hatte.
Die Funde lassen uns also erkennen, dass die mediterrane römische Küche auch nichtmediterrane Gebiete wie Mitteleuropa nördlich der Alpen erobert hat. Diese kulinarische Offensive erinnert an das letzte massive Vordringen mediterranen Kochens in den Norden: an seinen Geländegewinn seit der Mitte des vergangenen Jhs., seit der Eröffnung der ersten Pizzerien und griechischen Restaurants.23
Ebenfalls ähnlich wie heute, hat aber dieser Vormarsch des mediterranen Kochens nicht etwa bedeutet, dass die regionalen, einheimischen Küchentraditionen der einzelnen Gebiete nicht mehr fortbestanden hätten. Diese regionalen Küchen verloren in ihren Herkunftsgebieten zwar ihre alleinbeherrschende Rolle; sie wurden aber weiterhin gepflegt. Zu ihren Angeboten gehörten – im kaiserzeitlichen Italien wenig üblich bis unbeliebt – mit tierischen Fetten zubereitete Gerichte, Mehlspeisen aus Gerste oder Hirse und verschiedene Varianten von Bier. Bei den Nahrungstieren kamen regionale Spezialitäten wie etwa die Aalquappe, der Wildkarpfen oder die im Süden verschmähten Froschschenkel dazu.24
So mündete der „Küchenkrieg“ zwischen mediterranen und einheimischen Traditionen in den „Friedenszustand“ einer Koexistenz. Die Küche der römischen Provinz war das, was man neuerdings mit dem Modewort der „Fusionsküche“ bezeichnet: ein Nebeneinander und gewiss eine Vermischung mediterraner und regionaler Traditionen. Dabei sind Gerichte und kulinarische Produkte aus den Provinzen nicht nur regionale Spezialitäten geblieben, sondern fanden gelegentlich auch ihren Weg nach Italien.25
Ein solcher Austausch zwischen Traditionen verschiedener Herkunft ist ein Motor des kulinarischen Wandels. Die Veränderungen in der Küchenkultur Italiens, die wir weiter oben verfolgt haben, sind ja ein eindrucksvolles Beispiel dafür.
DIE „RÖMISCHE KÜCHE“ IM SINN DIESES BUCHES
Die vorausgehenden Abschnitte zeigen: wie wir die römische Küche zu charakterisieren haben, hängt sehr davon ab, welche Küche wir denn meinen. Präzisieren wir also, dass es in diesem Buch um hauptsächlich diejenige Spielart römischer Ernährung geht, die sich in den Rezepten des sogenannten Apiciuskochbuchs und der Vinidarius-Exzerpte niederschlägt. Diese Rezepte spiegeln aber weder die Ernährungsweise des ältesten Rom noch die der armen Menschen noch die der Provinzbewohner wider; sie stehen in erster Linie für die gehobenere Kochkultur Italiens in der römischen Kaiserzeit. Das heißt natürlich nicht, dass man nicht auch in den Provinzen nach ihnen gekocht haben kann. Wer sich auf die Küche dieser Rezepte einlassen möchte, der muss sich vor allem an drei Besonderheiten römischen Kochens gewöhnen:
• Zum einen an das Fehlen mancher uns heute geläufiger Gerichte, Beilagen und Zutaten. Die Antike hatte zum Beispiel – wie schon einmal erwähnt – noch keine Grapefruit und ebenso keine Ananas (gegenteilige Behauptungen über die Ananas gehen auf eine falsche Deutung eines pompejanischen Wandbilds zurück). Sie kannte auch noch keine Kartoffeln, keinen Spinat und nicht unsere Grünen Bohnen; sie musste ohne Tomaten, Paprika und Auberginen auskommen; sie verwendete kaum Reis (außer gelegentlich als Bindemittel); und sie hatte zwar vielerlei Sorten von Mehlspeisen zu bieten, aber noch keine Vanille, keine Schokolade, keine Schlagsahne und kein Speiseeis. Und schließlich, dass wir es nicht zu erwähnen vergessen: Wer meint, eine in Italien entwickelte Küchenkultur müsse doch wohl immer schon Nudelgerichte und Pizza geliebt haben, der irrt. Soweit Derartiges vorhanden war, scheint es zumindest keine wichtige Rolle gespielt zu haben.26
• Die Kehrseite der Medaille ist allerdings, dass die noch so vieles entbehrenden Römer auch viele Produkte kannten, die in der heutigen Küche fehlen. Zu solchen speziell römischen Lebensmitteln, die es heute gar nicht mehr – oder so gut wie gar nicht mehr – gibt, gehören beispielsweise die Gemüsepflanzen Ackerwinde, Doldentraubiger Milchstern, Gespenst-Gelbdolde oder Pfeilkresse (wobei sich aber ein ganzer Katalog mit einer zweistelligen Zahl solcher heute „vergessenen Gemüse“ aufstellen ließe); bei den Früchten die Brustbeere oder die Maulbeere; oder bei den Nahrungstieren die Purpurschnecke, der Siebenschläfer und der Papagei.27 Während man auf die Erprobung von Papagei- und Siebenschläfer-Rezepten aus Tierschutzgründen verzichten wird, lassen sich andere der ungewöhnlich gewordenen Lebensmittel aber durchaus beschaffen. Die Zahl der Gerichte, die sich wegen der Veränderungen in der Speisekammer gar nicht mehr nachkochen lassen, fällt nicht wirklich ins Gewicht.
• Die wichtigste Besonderheit der römischen Küche ist aber ihre spezielle Würzweise. Dieser dritte und bedeutendste Punkt steht ja im Zentrum unseres Buches. Die folgenden Kapitel werden darauf eingehen.
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