Wer war dieser Apicius? Hier warten schon neue Probleme auf uns. Aus der antiken Literatur kennen wir gleich drei prominente Feinschmecker, die diesen Namen trugen. Einer der drei lebte in der Zeit um 100 v. Chr.; einer in der ersten Hälfte des 1. nachchristlichen Jhs.; und der dritte im frühen 2. Jh. Der bekannteste von ihnen ist aber der des 1. Jhs. n. Chr.: Marcus Gavius Apicius. Nur von ihm wissen wir auch, dass er nicht nur ein zur Legende gewordener Genießer, sondern außerdem ein Küchenschriftsteller war.
Das Kochbuch mit den etwa 500 erhaltenen Rezepten und dem Namen des Apicius im Titel kann jedoch in Wahrheit – jedenfalls in der uns vorliegenden Form – weder von Marcus Gavius noch von einem seiner beiden uns bekannten Namensvettern geschrieben worden sein. Das zeigen sprachliche Kriterien, aber auch die Tatsache, dass manche Rezepte nach Kaisern erst späterer Jahrzehnte und Jahrhunderte benannt sind. Demnach ist das Buch erst lange nach dem Tod aller drei Persönlichkeiten, nämlich zwischen 350 und 450 n. Chr. (genauer: um 370/380?), entstanden. Der Name des Apicius muss also deshalb in den Titel gelangt sein, weil die Berufung auf den legendären Feinschmecker werbewirksam war und weil vielleicht ein Teil der Rezepte wirklich auf ihn zurückging.15 Eine ähnliche Entstehungsgeschichte mag auch noch eine zweite, aber nur schmale Sammlung von Kochrezepten haben, die ebenfalls aus der Spätantike stammt und die ihr Verfasser – ein gewisser Vinidarius – ausdrücklich als Apici excerpta, als Auszüge aus Apicius, bezeichnete.16
Abb. 7 Römisches Taschenbesteck nach Art unseres „Schweizer Offiziersmessers“. An einem silbernen Griff (Länge: 8,2 cm) ist verschiedenes ausklappbares Essbesteck befestigt. Von oben rechts nach unten links: Messer, Löffel/Gabel, Zahnstocher, Öffner für Weichtierschalen(?), Essspießchen. The Fitzwilliam Museum Cambridge.
Aus dieser Sachlage ergeben sich zwei Folgerungen. Die eine ist, dass wir nicht – wie bis heute allgemein üblich – davon sprechen sollten, das große noch vorhandene römische Kochbuch sei das Buch „des Apicius.“ Auch wenn das etwas umständlicher ist, kann korrekterweise doch nur vom „sogenannten“ Apiciuskochbuch die Rede sein. Die zweite Folgerung besteht dagegen in der Einsicht, dass wir das erhaltene Werk nicht, wie das fast ständig geschieht, als eine Quelle aus der Lebenszeit des Marcus Gavius Apicius im 1. nachchristlichen Jh. betrachten dürfen. Die einzelnen Rezepte sind zwar von sicher unterschiedlichem Alter; und einige mögen auch, wie erwähnt, auf Apicius selbst zurückgehen. Die Sammlung als ganze ist jedoch späterer Entstehung.
Nun darf man sich aber nicht täuschen. Auch wenn sich Tatsachen wissenschaftlich klar beweisen lassen und man sie laut bekannt gibt, heißt das noch lange nicht, dass falsche Ansichten, die im allgemeinen Publikum Wurzel gefasst haben, von der Bildfläche verschwinden. Bisher ist nicht zu beobachten, dass bei Erwähnungen des großen erhaltenen römischen Kochbuchs die nicht korrekte Autorenbezeichnung oder die falschen Angaben über das Alter der Rezepte seltener würden. Obwohl es Apicius heute wieder zu einer gewissen Prominenz gebracht hat – als Namenspatron für viele Restaurants, eine Kochschule, eine Zeitschrift, einen Lebensmittelladen und dergleichen mehr –, sind über ihn sonderbar falsche Angaben in Umlauf. Um nur das Beispiel des Programmhefts eines großen Archäologischen Parks für das Jahr 2017 herauszugreifen: dort ist zu lesen, dass ein Menü „nach Originalrezepten des Apicius aus dem 1. Jahrhundert v. Chr.“ angeboten werde.17
Abb. 8 Römische Esszimmerszene. Der Herr rechts fordert die Dame auf, sich zuerst zu bedienen. Es gibt Geflügel; und gegessen wird mit der Hand. Die Sklavin links hält eine Serviette bereit. Grabstein aus Orolaunum-Arlon (Belgien), 2./3. Jh. Musée de La Cour d’Or, Metz.
RETTICH FÜR DIE ARMEN. GESELLSCHAFTLICHE UNTERSCHIEDE
Glauben wir der späteren Überlieferung, so hätte es in der älteren römischen Republik eine Zeit gegeben, die keine gesellschaftlichen Unterschiede in der Ernährungsweise kannte.18 Auch ein Staatsmann und Feldherr wie Curius Dentatus (gest. 270 v. Chr.) setzte – so behauptet der kaiserzeitliche Satiriker Juvenal – „das bisschen Kohl, das er in seinem kleinen Garten selbst geerntet hatte, auf einen schmalen Herd“ (Juvenal 11, 78 f.). Das klingt zwar sehr nach einer frommen Legende; aber widerlegen lässt es sich nicht. Fest steht nur, dass sich in der späteren Republik und in der Kaiserzeit zwischen der Ernährung der Armen und der Haute Cuisine der Reichen eine tiefe Kluft auftat. Delikatessen wie etwa der Pfau, über den der Dichter Horaz das dann zur Redensart gewordene Wort vom „raren Vogel“ gesagt hat, waren kleinen Leuten nicht erschwinglich. Während eine Familie aus Pompeji, von der sich inschriftlich eine Art von Auszug aus ihrem Haushaltsbuch erhielt, täglich etwa zwei Sesterze kaiserzeitlicher Währung ausgeben konnte (wovon sie zum Beispiel ein Viertel für einen „kleinen Fisch“ aufzuwenden hatte), gab es extravagante Reiche, denen eine Fischdelikatesse 6000, 7000 oder 8000 Sesterze wert war – genug also, um die ganze Lebenshaltung der erwähnten Pompejaner für einen Zeitraum von acht bis zehn Jahren zu finanzieren. Freilich ging es den Spitzen der Gesellschaft beim Einkauf für die Küche nicht allein um Qualität, sondern zum Teil schon um das gleiche Anliegen, das der amerikanische Ökonom Thorstein Veblen später „demonstrativen Konsum“ nennen sollte; d. h., ihre Nachfrage galt gerade den teuersten Gütern, weil sie so ihre wirtschaftliche Potenz demonstrieren wollten.19
Abb. 9 Noch einmal der Grabstein aus Abb. 8. Diesmal sitzen Kinder beim Essen. Einer der beiden Sklaven rechts will einen Hund daran hindern, mitzuhalten.
Abb. 10 Tonlampe mit der Darstellung einer „Hauptmahlzeit“ (cena) eines Armen. Da die antike Hauptmahlzeit abends stattfand, war das ein passendes Bildmotiv für eine Lampe. Kunsthistorisches Museum Wien.
Von den Rezepten des sogenannten Apiciuskochbuchs gehören einige dieser demonstrativen, aber auch die meisten übrigen gewiss einer gehobenen Küche an. Sie ist uns dadurch wesentlich besser bekannt als die Ernährungsweise der ärmeren Menschen der Kaiserzeit. Kochbücher hat die Unterschicht der damaligen Gesellschaft eher nicht benötigt; was sie brauchte, waren eher einfache Nahrungsmittel (wie grobes Brot, Brei und Gemüse).
Zwar bewirkten Einladungen, die üblicherweise Reiche für eine ärmere Klientel aussprachen, und das Angebot von Imbissbuden eine gewisse Versorgung Ärmerer mit warmen Mahlzeiten und Fleischprodukten. Aber nicht jeder kam häufig in den Genuss solcher Gerichte. Eine Tonlampeninschrift (Abb. 10) drückt das mit den Worten „Die Hauptmahlzeit eines Armen: (das ist) Brot, Wein und Rettich“ aus.20 Alle drei Nahrungsmittel – Brotfladen, Weinflasche und Rettich – sind auf der Lampe auch abgebildet. Freilich stecken sie da in einem Bastkörbchen und zusammen mit einer Serviette so appetitlich beieinander, dass sich das Bedauern für den römischen Armen gar nicht so recht einstellen will.
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