Kontroverse
Kronos als Hüter der Tradition
Entschuldigen Sie meine Anrede, lieber Herr Verteidiger, aber für mich sind Sie ein zynischer Entsteller sozialer und kultureller Tradition. Das ist die treffende Bezeichnung für jemanden, der die Rolle dessen, der die gesellschaftliche Entwicklung so sehr verkörpert, bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Der Herrscher ist das Abbild des höchsten Vaterprinzips und somit der Schöpfergenius der menschlichen Evolution. Er repräsentiert die oberste Instanz auf Erden und besitzt als Einziger die Kraft, Mutter Natur zu trotzen und daraus eine allgemein gültige Ordnung zu schaffen. Er ist der Pflug, der willkürlich durch das geduldig wartende Brachland ackert, um es seinem Willen nach Fruchtbarkeit zu unterwerfen. Er ist auch der Erfinder und Erbauer von eingrenzenden Zäunen und Mauern, mit deren Hilfe er der Natur stückweise Land abringt, um es sich zur Sicherung seiner Herrschaft zu erhalten und das ebenfalls der Natur entrissene Vieh darin festzuhalten. Seine Durchschlagskraft erobert die Welt und schafft Geborgenheit, Sicherheit und Ordnung, denn er steht darüber hinaus für die Person eines Staatsgründers oder die Form einer notwendigen Diktatur, die auf der Macht eines Königs beruht, der die Kräfte des Einzelnen mit den Zielen des Ganzen zu verbinden sucht. Kraft seiner Autorität fliegen ihm die Herzen der Leute zu, weil es neben ihm keine andere Domäne gibt, an der sich der Mensch in der Welt orientieren kann. Sein Wissen ist komplex und seine Einsichten in die Gesamtzusammenhänge des Lebens machen ihn zum großen Strategen, denn jede Erdenseele wird ihm auf ihrem Weg an den Entwicklungspunkten (Staatsexamen, Familiengründungen etc.) begegnen. Seine Ziele sind gleichzeitig die Grundlage für all die Regeln, die er selbst hervorbringt, denn die Kurzsichtigkeit der Menschen verpflichtet ihn zur väterlichen Strenge gegenüber dem Chaos seiner Kinder. So gesehen ist er der Kapitän, der als letzter sein Schiff verlässt, und der Hirte, der sein Leben lässt für seine Schafe. Daher meine Frage, Sie durchtriebener Schwätzer und hämischer Gegenspieler: Welcher Teufel spricht aus Ihrem Mund, wenn Sie die Loyalität des Allmächtigen so diskreditieren und seine Schöpferkraft mit den Füßen treten? Ist er nicht der ideale Vater, der Diener seines Volkes, indem er seine Überlegenheit unter die Bedürftigkeit der anderen stellt?
Akronos als Advocatus Diaboli
Sie bewegen sich mit Ihren Argumenten auf sehr dünnem Eis, geschätzter Herr Kollege, denn die Schöpferkraft des weltlichen Herrschers ist aus den Augen der Götter sehr umstritten. Fakt ist doch: Unsere komplexe Gesellschaft ist ohne die den Menschen eingeimpften künstlichen Bedürfnisse gar nicht mehr in der Lage, das Bruttosozialprodukt zu erwirtschaften, um sich selbst über Wasser zu halten, denn wir sind mit den Wirtschaftssystemen so hoffnungslos verschmolzen, dass wir untergehen würden, wenn wir sie nicht mehr bedienen würden (selbst Oma hängt über die Rente an ihrem Tropf!). Nur wenn ein arglistiger Dämon uns überreden würde, herauszufinden, auf welchen Grundlagen wir wirklich stehen, müsste das Ganze zusammenbrechen, denn wir stehen auf einem Haufen Scheiße, einem kollektiven Wahn oder einem wuchernden Krebsgeschwür, das sich nur dadurch im Gleichgewicht halten kann, dass es ständig wächst. Die erste, notwendige Lüge besagt, dass eine feste, bedrohliche Welt da draußen existiert, die uns feindlich umgibt; die uns überwältigt und besiegt, wenn wir uns nicht dagegen wehren. Die Brille des Herrschers, durch die wir wahrnehmen, verleitet uns zur Annahme, dass alles, was wir sehen, so ist, wie es ist. Das ist die Falle. Denn die Realität erscheint uns nur als real, weil wir vergessen haben, dass wir sie selbst geschaffen haben, indem wir die Brille nämlich genau an jene Stelle rückten, wo sie sitzen muss, damit uns das Gesehene in der uns beschriebenen Form real erscheinen kann. Wir verdrängen, dass sich uns alles nur als wirklich zeigt, weil die gesellschaftliche Übereinstimmung uns vorgibt, die aufgeprägte Doktrin als real wahrzunehmen. Die Realität des Menschen erscheint an einer bestimmten Stelle im Bewusstsein, weil es die Prägungen so vorgeben, denn der genaue Sitz dieser Bewusstseinsfilter ist durch kollektive Gewohnheiten vorgegeben. Zuerst lernen wir, in welcher Position wir sie vor unserem Gesichtsfeld aufzusetzen haben, und dann setzen wir sie genau an der Stelle auf, an der unsere Sichtweise mit den Beschreibungen der Welt in Übereinstimmung ist. Die Möglichkeit, dass alles, was wir sehen, nur dort draußen ist, weil wir uns irgendwann entschieden haben, es da, wo wir es sehen, auch sehen zu wollen, und dass außerhalb der Entscheidung, die Welt in den von uns konstruierten Zusammenhängen entdecken zu wollen, alles auch ganz anders sein könnte, kommt dem Herrscher nicht in den Sinn. Doch die Wahrheit ist: Wir nehmen nicht wahr, was wir sehen, sondern wir sehen, was wir aufgrund unserer Modelle aus dem Geschauten wahrnehmen können. Unsere Sinne sehen nicht das, was da draußen ist, sondern nur das, was sie aufgrund ihrer anerzogenen Prägungen gezwungen sind, wahrzunehmen. Was wir auch nicht merken, ist, dass unsere Wahrnehmung keine unabänderliche Position darstellt, sondern sich durch die Gewohnheit fixiert hat, das Geschaute in der Form, wie wir es zu beschreiben gelernt haben, reflektieren zu wollen. Deshalb meine Antwort: Die Sicht des Herrschers ist aus der Sicht der Wirklichkeit nichts anderes als die Selbst-Betrachtung des historischen Bildmaterials oder Erlebnisinventars, das sich der Mensch im Laufe seiner Entwicklung angeeignet hat. Um bewusstseinsmäßig unabhängige Individuen zu werden, müssten wir erkennen, dass genau die Stelle unserer Perspektive letztlich unsere Identität und die Erlebnisse unserer Realität bestimmt.
So wie die Herrscherin die Natur versinnbildlicht, so entspricht der Herrscher den Naturgesetzen, die wir Menschen im Lauf der Zeit entdeckt haben, um uns in der Welt zurechtzufinden. Wir wiegen, errechnen und messen aus, um uns so in Raum und Zeit einordnen zu können. Der Herrscher ist derjenige, der die wildwuchernde Kreativität und Lebendigkeit der Herrscherin erschließt, strukturiert und verfeinert, um sie dem Bewusstsein zugänglich zu machen. Damit schafft er zugleich die Voraussetzungen, um in einer zivilisierten Gemeinschaft miteinander leben zu können, indem er den Bezugspunkt für uns Menschen darstellt: das, woran wir uns in dieser Gemeinschaft orientieren und wonach wir uns richten. So treffen wir ihn im Alltag unserer patriarchalischen Gesellschaft eigentlich überall an. Er bestimmt die Umgangsformen, die es uns ermöglichen, in friedlichem Miteinander unseren täglichen Geschäften nachzugehen. Ebenso verkörpert er den Arm des Gesetzes, den wir zu spüren bekommen, wenn wir die Regeln unserer Gesellschaft übertreten. Der Herrscher lässt uns bei einer Streitigkeit den Rechtsanwalt einschalten oder eine neue Hausratversicherung abschließen. In uns selbst entspricht er dem Über—Ich, also jenem Teil, der unsere Eltern und unser soziales Umfeld repräsentiert, das uns von Kindheit an erzogen und beigebracht hat, was wir tun und lassen müssen, um in der Gemeinschaft unseren Platz zu sichern. Mit seiner Energie werden wir im täglichen Erleben rationell und realitätsbezogen vorgehen. Wir möchten uns unseren Lebensraum abstecken und ausbauen und arbeiten deshalb beständig an der Verwirklichung unserer Ziele oder an der Verbesserung unseres gesellschaftlichen Status.
Die Herrscherenergie gibt uns in unserem Beruf die Fähigkeit, Dinge einzuordnen und in den richtigen Zusammenhängen zu erkennen. Wir sind in der Lage, das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden zu können und zu planen, wie der nächste Schritt auszusehen hat, damit ein Vorhaben oder eine Arbeit in der Realität auch tatsächlich Erfolg zeigen kann. Im Berufsleben verkörpert er den Macher, den Konzernchef oder Wirtschaftsboss, der uns die Fähigkeit gibt, mit Beharrlichkeit und Weitsicht unsere Ideen zu strukturieren und zu verwirklichen. Zugleich ist er auch ein Krieger und Eroberer, denn er ist bestrebt, sein eigenes Gebiet und seine Funktion ständig zu erweitern. Innerhalb unserer Arbeit sind wir dementsprechend vorausschauend, karriereorientiert und interessiert an einem Zuwachs von Macht und Geld. Auch das Finanzielle entwickelt sich unter dem Herrscher zumeist positiv. Schließlich entspricht er dem Teil in uns, der sich Gedanken darüber macht, wie wir das Geld am besten Gewinn bringend einsetzen können, wo hinein wir investieren und wo heraus wir Kapital schlagen sollten, um unsere finanziellen Ressourcen stetig auszubauen.
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