Kontroverse
Die weibliche Kraft der Roten Göttin
Lieber Advokat und männlicher Gegenspieler, den Archetyp dieser Karte auf einen instinktiven, ständig ablaufenden Reproduktionsvorgang zu begrenzen und als Prägewerkzeug des Schöpferwillens zu deklarieren, stößt in dasselbe alte patriarchalische Horn wie die schon seit Jahrhunderten andauernde Strategie, Frauen - besonders in ihren mächtigsten Funktionen als Mütter und Königinnen - auf körperliche Gebärmaschinen zu reduzieren! Der dem Bild der Herrscherin unterstellte Eigendünkel findet sich da schnell in der für den männlich definierten Geist typischen Hybris wieder, mit der er sich die Erschaffung der Welt nur als einen Akt eines Schöpfergeistes und nicht der Göttin selbst vorstellen kann. So erhebt er sich über den Körper und betrachtet das irdische, mater —ielle Leben jenem Geiste untergeordnet, ohne dabei jedoch die zyklischen Bewegungen der lebendigen Energie wirklich durchdrungen zu haben. Dieser inneren Haltung, die dazu führt, dass der Mensch seinen Geist als unabhängig vom Körper sieht und ihn beherrschen will, liegt oft die Sichtweise zugrunde, dass das Leben an sich mühsam und quälend ist und dass es eigentlich Ziel eines jeden Menschen sein sollte, sich darüber in andere Sphären zum Göttlichen zu erheben - in das gelobte Jenseits, das in vielen Religionen durch einen geistigmännlich dominierten Himmel dargestellt wird. Aber ist diese innere Abspaltung, die der Geist dadurch von der Fülle und Lebendigkeit des Körperlichen vollzieht, nicht gerade das, was das Erdenleben so mühsam, quälend und krankheitsbeladen macht?
Akronos als Advocatus Diaboli
Es ändert sich nichts daran, ehrwürdige Repräsentantin weiblicher Kraft, ob der Geist das Körperliche abgespalten hat oder nicht, der Mensch quält sich so oder so, da er nicht in der Lage ist, seine Gefühle und seine Bilder unpersönlich zu sehen. Genauso wenig wie die Mutter für das Leben selbst steht, steht auch die Herrscherin für die Sichtbarwerdung der Form, denn beide sind nur die eine (unvollständige) Seite des allumfassenden Stirb-und-Werde- Prozesses, damit sich das Stirb durch den schöpferischen Willen immer wieder ins Leben gebären kann. Mutter zu sein bedeutet auch, sich mit den Emanationen der Herrscherin zu verbinden und sich im kollektiven Spiegelbild an jenen Punkt zu stellen, an dem wir die Göttin sehen, wenn wir in den Spiegel blicken. Diese Übertragung als die folgerichtige Projektion unseres Wollens zu entlarven, ist uns bis heute aber nicht bewusst, was sich am Bild der Großen Mutter zeigt. Über Jahrtausende hinweg wurde aus der Reproduktion der eigenen Art, dem natürlichsten Vorgang aller Lebewesen, ein Mythos geboren, der überwiegend zur Glorifizierung des einen Pols einer sich gegenseitig bedingenden Dualität geschaffen wurde. Somit spiegelt diese Karte eines der grundlegendsten menschlichen Bedürfnisse wider: den Wunsch nach Herabrufung einer göttlichen Kraft, die die Form des Menschen segnet und erhört. Im Lauf der Geschichte hat die Chronik das Bild der Mutter exakt an die Stelle gerückt, an der wir sie anbeten können, ohne zu merken, dass wir uns zwingen, ständig genau dahin zu blicken, wo sie uns in der Projektion unserer Selbstliebe aus dem Spiegel unserer kollektiven Vorstellung entgegenschaut. Die einzige Macht, die unser Mutterbild aus der anerzogenen Position entfernen würde, wäre die Verschiebung der Wahrnehmung selbst. Doch da wir ihre Brille auf unserer Nase nicht verrücken können, weil wir ohne sie den Sinn des Lebens nicht verstünden, erkennen wir in ihr auch den Fokus der kollektiven Ausrichtung auf unsere Welt, was in den nächsten Karten zu den Geboten von Kirche und Gesellschaft führt.
Geist (Magier) und Seele (Hohepriesterin) brauchen den physischen Leib, um durch ihn als Werkzeug wirken zu können. Die Herrscherin repräsentiert diesen Körper und unser materielles Erleben auf Erden. Was der Magier aus den Botschaften der Hohepriesterin mental zu fassen vermag, das brütet sie aus und gebärt es ins Leben. Sie ist die Rote Göttin im dreifaltigen Kreislauf unseres Erdendaseins: Herrin über Geburt, Leben und Tod. Sie ist die Erdmutter, die wachsen und gedeihen lässt und jede physische Form aus sich hervorbringt. Zugleich herrscht sie in ihrem dunklen Aspekt über den Tod und führt uns in Gestalt der Schwarzen Göttin gnadenlos vor Augen, dass alles auf Erden vergänglich und in ständiger Veränderung ist. Sie ist die Meisterin über Wachstum und Kreativität, Kennerin und Dompteurin ihrer verschiedenen Persönlichkeitsanteile, die sie in ihrer ganzen Fülle und zum Wohl des Ganzen zu dirigieren weiß. Im Alltag bringt sie uns zumeist Lebensfreude, Sinnlichkeit und Wärme ins Leben. Wir fühlen uns genährt und behütet, genießen die Gegenwart und erfreuen uns an der Fülle dessen, was das Dasein uns schenkt. Wir können ihrer Kraft überall in wild wachsender, unbändiger Natur begegnen, in den vier Jahreszeiten, die wir jedes Jahr aufs Neue durchleben, genauso wie in einer opulent ausgestatteten und mit Hingabe inszenierten Opernaufführung. Denn sie liebt nicht nur das Leben, sondern in ihrer Funktion als Kaiserin selbstverständlich auch die großen Auftritte. Mit ihr sprühen wir vor Kreativität und können mit Freude die körperlichen Genüsse und sinnlichen Freuden des Alltags zelebrieren. Zugleich haben wir eine starke Selbstsicherheit, sind uns unserer eigenen Fülle und unseres inneren Reichtums bewusst und wissen ihn im Alltag klug und trotzdem freigebig einzusetzen.
Im Beruf sorgt die Herrscherin für unser Wohlergehen, und mit großem Elan und viel Kraft gehen wir an unsere täglichen Aufgaben heran. Unsere Tätigkeit ist beglückend und durch die mitreißende Energie aus ihrem Baucherleben wird uns eine Zeit himmlischer Fülle und Lebensfreude zuteil. Neue Projekte oder ein Berufswechsel werden unseren Alltag bereichern, denn es ist ihre Aufgabe, neues Leben hervorzubringen und großzuziehen. Intuitiv verheißt sie eine Phase voller Schöpferkraft und Unterstützung für die Verwirklichung von kreativen Ideen. Als Unternehmensleiterin oder Chefin in einer Branche, die mit Natur oder Aufzucht und Pflege in Verbindung steht, ist sie in ihrem Element. Manchmal erscheint die Karte auch als Hinweis auf eine uns wohlwollende weibliche Vorgesetzte oder eine andere Frau aus unserem Arbeitsfeld, die einen wohltuenden Einfluss auf unser Leben hat. Für unsere Finanzen wirkt sich die Herrscherin ebenfalls günstig aus: Es fällt uns leicht, an Geld zu kommen, damit umzugehen und es zu mehren.
Das fruchtbare Wachstum wird bei der Umkehrung der Karte zu einem wilden Wuchern. Im Finanziellen neigen wir dazu, uns zu viel zu kaufen und uns mit unnützem Besitz zu beschweren. Während unserer Arbeit sind wir maßlos und überschätzen unsere körperlichen wie auch kreativen Kräfte. Oder wir erleben das Gegenteil und haben plötzlich keine Energie mehr zur Verfügung, fühlen uns erschöpft und ausgepowert, weil wir im Vorfeld zu übermäßig waren. In ihrer Liebe zum dramatischen Erleben kann die verkehrte Herrscherin bei der Arbeit aus jeder Kleinigkeit ein Drama bzw. eine Tragödie inszenieren und damit so viel Chaos hervorbringen, dass gesunde Produktivität nicht mehr möglich ist. Oder sie zeigt uns eine Frau in unserem beruflichen Umfeld an, die auf uns diese Wirkung hat.
Im Fegefeuer der Liebesglut lässt die Kaiserin die Libido züngeln und die Lustflammen sprießen. Deshalb erleben wir eine Phase der Sinnesfreude und genießen das, was wir uns gegenseitig geben können. Oft deutet die Karte auf neue Ziele hin, die in einer Verbindung zu positiven Veränderungen führen. Dies kann sich auf der seelischen Ebene als schöpferisches Erleben genauso wie auf der physischen als tatsächliche Schwangerschaft und Geburt eines Kindes manifestieren. Mit der Herrscherin geht es uns körperlich gut, wir fühlen uns energievoll und gesund. Ihre Energie hat mit unserem Solarplexus zu tun, durch den jegliche Kreativität frei fließen muss, damit wir sie zur Welt bringen können. Somit rät sie uns, auf unseren Bauch zu achten und ihn liebevoll zu behandeln: mit dem, was wir essen, und dem, worüber wir uns ärgern. Frauen können jetzt die nährende, liebevolle Seite ihrer Weiblichkeit in Beziehungen gut ausleben, während Männer in den Zeiten, in denen die Urmutterkraft in ihrem Leben wirkt, die Möglichkeit nutzen können, ihren Kontakt zu ihrer inneren Anima zu stärken und tiefer in ihr Leben zu integrieren.
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