Umgedreht ist die Liebe zu Besitz ergreifend geworden und erstickt dadurch die Freiheit und das Leben in unseren Beziehungen. Die Fähigkeit der Herrscherin, in Liebe zu geben und zu empfangen, tritt über ihre Schranken hinaus und führt zu einem Übermaß an Zuwendung. So verliert sie den Bezug zu ihrem eigentlichen Wesen und verstrickt sich in Gefühlen von Besitzgier und Eifersucht aus Angst, dass alles vergänglich ist und der eben lieb gewonnene Mensch genauso wieder verloren werden kann.
Die Karte bedeutet auch, dass wir unsere und die Grenzen anderer in Beziehungen nicht richtig wahrnehmen und akzeptieren können. Nicht selten weist sie uns auf einen inneren Konflikt hin, eine unerlöste Mutter-Thematik, die uns gerade in die Quere kommt und zu Verstrickungen in unseren Beziehungen führt.
Auch im spirituellen Erleben zeigt uns die Herrscherinnenkraft eine Zeit der Fülle, des Wachstums und der Veränderungen an. Vielleicht finden wir neue Einsichten oder Wege, mit denen wir in unserer Realität Wichtiges bewirken können. In jedem Fall öffnet sie uns dafür, in unseren Entwicklungspfad viel Liebe und Kreativität einfließen zu lassen. Ebenso sendet sie uns die Aufforderung, unserer Körperlichkeit mehr Aufmerksamkeit zu schenken, und stärkt unser Bewusstsein für die zyklische Ausrichtung allen Lebens auf Erden. Sie hilft uns, den Kreislauf von Geburt und Tod mit liebevoller Gelassenheit und Würde anzunehmen und im Rahmen unserer Möglichkeiten zu gestalten. Die Herrscherin kann auch für Zeiten stehen, in denen wir uns auf unserem Weg der Erkenntnis stark mit unserer Weiblichkeit auseinandersetzen oder in denen es sehr wichtig ist, uns zu erden. Wir fühlen uns mit der Natur verbunden und viele neue Wege und Antworten kommen in unserem Inneren einfach zu uns, wenn wir ins Grüne gehen und uns ihrer Energie nicht verschließen.
Steht die Herrscherin auf dem Kopf, dann will sie all ihren spirituellen Reichtum für sich behalten und ihn nicht ins Leben gebären aus Angst, ihn mit diesem Akt des Loslassens zu verlieren. Wir stecken in der materiellen Welt unserer Körperlichkeit fest und finden auf diese Weise keinen Zugang zu unserer Spiritualität. So gibt es wichtige Impulse oder kreative Energien in uns, die uns den Weg weisen wollen, die wir aber nicht ins Leben lassen, sodass sie sich in der Realität nicht manifestieren können. Entweder wir schlagen Möglichkeiten aus und lehnen Menschen ab, die uns helfen konnten, unsere Magie in der Wirklichkeit erfüllender zu gestalten, oder wir erdrücken unsere spirituelle Entwicklung und die Helfer, die uns begegnen, mit mütterlicher Dominanz.
IV Der Herrscher
Ordnung, Stabilität, Struktur
Im Gegensatz zur Herrscherin , durch welche die kosmischen Energien in die natürlichen Formen des Lebens fließen, symbolisiert der Herrscher die Abtrennung des Bewusstseins von der Ganzheit der menschlichen Natur. Als handelndes Ich repräsentiert er den vom Selbst abgespaltenen, selbstverantwortlichen Teil unserer Persönlichkeit. Dieser schafft sich aus Angst vor dem Chaos eine gesellschaftliche Ordnung und Struktur. Andererseits setzt sich seine negative Energie im Stabilitätswahn und den kontrollmechanismen des Regenten fort, und oft erscheint es so, als wolle er aus dem Ablöseschock von der Göttin die Erde dafür bestrafen, dass die Mutter ihn von sich stieß, denn der Kultus des Herrschers ist der Kultus des Ichs, das sich (projizierend) in die Schöpfung mit einbezieht und sie dann von innen heraus nachschöpft. So wird ein Teufelskreis in Bewegung gesetzt: Die mittelbare und unmittelbare, bewusste und unbewusste Zerstörungsmaschinerie wird zur lebensnotwendigen Grundlage seines Daseins und oft wird als Höhepunkt des verdeckten Durchlebens des eigenen inneren Chaos sogar der Krieg zur gerechten Sache erklärt. Aus der Rolle des Advocatus Diaboli heraus wäre demnach die Frage zu stellen, ob Aggressionen, Kriege und Unterdrückung nicht vielleicht insgeheim eine Sinn stiftende Funktion erfüllen, indem sie seelisch verkrüppelten Individuen das Überleben in einer Gesellschaft erlauben, die ihren Mitgliedern die systematische Verdrängung ihrer angeborenen Instinkte auferlegt.
Baphomet — Tarot der Unterwelt
Wie oben, so unten , verkündet eines der Gesetze auf den Jadetafeln des Hermes Trismegistos, die die Regeln dieser Welt wiedergeben. Damit betreten wir die Domäne des Herrschers, des Höchsten aller Ordnungshüter. Wie ein Dompteur dirigiert er die materielle Realität, damit die Leute eine Zielrichtung haben, denn ihm kommt die Aufgabe zu, die gesellschaftlichen Strukturen so zu erschaffen, dass sich jeder Mensch daran orientieren kann. Weil jeder die Welt anders sieht, als der andere sie sieht, und jedes Individuum ein Objekt aus einer anderen Perspektive wahrnimmt, steht diese Karte auch für den menschlichen Geist, der dazu dient, die verschiedenen Sichtweisen unter einen Hut zu bringen und eine gemeinsame Matrix zu schaffen, damit eine gemeinsame Entwicklung überhaupt funktioniert. Doch was bedeutet sein Dressurakt für die sozial-kulturelle Entwicklung des Abendlandes?
Seit Aristoteles sondern die Filter unseres alles miteinander in Bezug setzenden Denkens alles aus, was nicht durch Stoff und Form, Bewegung und Ziel definiert werden kann (auch wenn Platon davon ausging, dass wir im Sichtbaren nur das erkennen können, was wir an Informationen oder Vorstellungen in uns tragen). Aus diesem Blickwinkel heraus betrachtet ist auch das Modell der naturwissenschaftlichen Erkenntnis nur eine Vorstellung, abhängig von den Gesetzen, die wir selbst geschaffen haben. Davon ausgehend können wir schlussfolgern, dass unser Bewusstsein im Objekt immer nur unsere eingegebenen Erfahrungen erkennt, ja dass wir, indem wir das Gegenüberstehende erkennen, uns im Grunde immer nur selbst erkennen. Wir projizieren unsere Wahrnehmung in einen Gegenstand hinein und tun so, als würden wir damit seinen Sinn erfahren, aber wir sind uns nicht bewusst, dass wir erst durch unsere Empfindung dem Betreffenden zu der von uns wahrgenommenen Form verhelfen. Umgekehrt zeigt uns erst die äußere Betrachtung eines Objektes die Position unseres Standpunktes, wer wir sind, was wir aus unserer eigenen Perspektive herausziehen und wie wir uns in unseren eigenen Schöpfungen betrachten. Wir haben zwar die Kraft, die Welt durch die Sichtweise des Herrschers aus uns selbst hervorzubringen, aber wir haben nicht die Macht, hinter die Mechanismen unserer Realität zu sehen und die vereinnahmenden Energien unserer eigenen Prägungen zu durchschauen, denn hier beherrscht die Vorstellung bereits die Wirklichkeit, und die meisten Menschen glauben, dass die Vorstellung die Wirklichkeit eins zu eins wiedergibt.
Der Stehkragen, der den Hals des Diktators umschließt, zeigt das strukturelle Rückgrat, um die Position unserer Realität so zu betonieren, sodass die Welt, die wir sehen, immer genau unserer Vorstellung entspricht. In Wirklichkeit sind unsere Sinne aber die Formgebungskanäle, durch die unsere Anschauung das Gesehene in einen eigenen Rahmen presst. Gleichzeitig verfügen wir über einen hoch entwickelten Geist, nicht um eine fest existierende Welt wahrzunehmen, sondern um sie in das Band unserer kollektiven Vorstellungen einzugliedern, damit das Gesehene im Kontext unserer anerzogenen Bilder real werden kann und damit unsere Wahrnehmung stützt. Wir spielen sozusagen die Hauptrolle auf der Bühne des Herrschers, die seinerseits dem auf Funktionalität reduzierten Ausschnitt seiner verdichteten Überzeugungen und Erwartungen entspricht. Es ist aber falsch zu glauben, dass sich unsere Entwicklung in einem Umfeld des Gleichgewichts vollziehen könne; sie mag es zwar ständig suchen, aber sie darf es nicht erreichen, damit Realität überhaupt möglich ist. Dieses Problem ergibt sich aus der Unvereinbarkeit zweier Absichten: Der Mensch trachtet nach einem Gleichgewicht, um seine Entwicklung zu kontrollieren; gleichzeitig streben die vitalen Antriebskräfte aus der Form, was eben dieses Ungleichgewicht verursacht (das zeigen die bewaffneten Krieger auf dem Bild). Gleichgewicht ist eben kein statischer Zustand, sondern es wird durch die ständig herbeigezwungenen Veränderungen ermöglicht. Auch wenn die tägliche Realität vor unseren Augen statisch erscheint, damit wir die Entwicklung als ein Erscheinungsbild von relativer Dauerhaftigkeit wahrnehmen können, wird sie ständig neu geschaffen, so dass der Herrscher ständig gezwungen ist, die Änderungen fortwährend an die gesellschaftlichen Modelle anzupassen. Die Energie hinter den veralteten Standpunkten wird schwächer, und an einem bestimmten Punkt merken wir, dass sich die Welt verwandelt hat. Tatsächlich verändert sich die kollektive Sicht kontinuierlich, an der wir unsere Realität aufhängen, und durch den Blickwinkel unserer Gesellschaft nehmen wir diese Wechsel als sozialen Fortschritt oder sozial-kulturelle Entwicklung wahr. Jede Wirkung wird im Kraftfeld einer Ursache, aus der sie hervorgeht, erzielt, und indem alle Handlungen in ein Netzwerk von Beziehungen eingesponnen sind, ruft jede Bewegung immer neue Aspektkombinationen der Daseinsfaktoren hervor, und die unterschiedlichen Auswirkungen werden in immer neue Ursachen-Kerne aufgespaltet wie Atomkerne in einer Kettenreaktion.
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