Es gibt in Indien jede Menge Leute niederer Klassen, die fest darauf beharren, dass sie ursprünglich von brahmanischer Abstammung waren, aber ihren Namen und Beruf ändern mussten, um einer Verfolgung zu entgehen. Das Ergebnis davon ist, dass viele Leute ihren Varṇa aufzubessern versuchen und nur wenige das glauben, was ihre Nachbarn über den ihrigen behaupten. Die hinduistische Gesellschaft, die heutzutage (inoffiziell) in mehr als 3.000 Klassen unterteilt ist, sieht theoretisch wie eine wohlgeordnete Hierarchie aus, aber die Dinge sind weniger rigide als es scheint. Dies macht die Heirat zu einer echt komplizierten Angelegenheit. In der Theorie sind alle Klassen dazu angehalten, untereinander zu heiraten oder, falls machbar, mit höher Stehenden. In der Praxis sind viele Überlegungen mit im Spiel, etwa um Besitz und Macht, und die Suche nach einem angemessenen Partner liefert Unterhaltung für den ganzen Clan. Nach Möglichkeit versuchen Familien, ihre Töchter in eine Klasse von höherem Status zu verheiraten, und üblicherweise verlangt die Familie des Bräutigams viel für diese Ehre. Wenn es viele Töchter gibt, dann können zu viele Hochzeiten die Familie ruinieren. Die Heirat von Männern in höhere Klassen wird mit Stirnrunzeln betrachtet und geschieht selten. Das macht es für eine Frau der oberen Klassen schwer, einen Partner zu finden. Zwischen den zahllosen Klassen kommt es nach wie vor zu Konflikten, die gerne gewaltsam ausgetragen werden. Obwohl die Klassendiskriminierung und überhaupt das Klassensystem von den Briten theoretisch abgeschafft wurden und von der modernen indischen Regierung nicht gern erwähnt werden, existieren beide weiter. Für die Fundamentalisten ist das ganz einfach: Die Existenz von Klassen zu verneinen bedeutet, die Struktur des Dharma in der menschlichen Welt zu verneinen. Hier hat sich in den letzten hundert Jahren viel getan. Zuerst haben die Briten das Klassensystem offiziell abgeschafft.
Als Indien unabhängig wurde, gab es intensive Bestrebungen, ein neues, demokratisches Denken einzuführen. Manche Angehörigen der untersten Schichten machten unter Gandhi erstaunliche Karrieren; ein ehemaliger Unberührbarer, Dr. Ambedkar, gehört zu den bedeutendsten Autoren der indischen Verfassung. Es wurde also, unter gebildeten Städtern, zunehmend politisch korrekt, die Klasse anderer zu ignorieren. Hieran waren auch viele Politiker interessiert, denn die Gunst der unteren Klassen brachte immens viele Wählerstimmen. Heute schlägt das Pendel wieder in die andere Richtung aus. Die indische Regierung hat Förderungsprogramme für die unteren Klassen verabschiedet, nach denen eine bestimmte Zahl an Studienplätzen und privilegierten Stellungen nur für diese reserviert sind. Entsprechend attraktiv wurde es für viele arme Inder, sich auf ihre niedrige Klassenzugehörigkeit zu besinnen und daraus Vorzüge zu gewinnen. So sehen wir im heutigen Indien im städtischen Leben sowohl hochgebildete und gut verdienende Unterklassen-Angehörige als auch Menschen, die ohne irgendwelche Schutzkleidung in der Kanalisation tauchen, um verstopfte Rohre frei zu kriegen. Auf dem Land sind die Konflikte oft ausgeprägter. Wer, denkst Du, wird dafür geschlagen, dass er Selbstachtung zeigt? Wer baut kostenlos Häuser und bestellt die Felder der Grundbesitzer? Auf dem Land verkaufen die Großgrundbesitzer oft die Stimmen der einfachen Leute an die meistbietenden Politiker. Jedes Jahr kommt es vor, das Klassenlose von sozial besser Gestellten gesteinigt werden. In den Städten schwächt sich dieser Trend deutlich ab, aber auf dem Land ist manches so schlimm wie eh und je. Gelegentlich werden Menschen nur dafür getötet, dass ihr Schatten einen Oberklassen-Fanatiker gestreift hat. Doch hier sollte auch auf die Informationssituation geachtet werden. Wenn eine Gruppe religiöser Fanatiker ein paar Menschen aus den unteren Klassen tötet, erscheint dies sofort in der Presse. Doch solche Fälle werden seltener. Im Großen und Ganzen ist es erstaunlich, wie viele Inder es trotz unterschiedlichster Religionen, Sprachen, Kulturen und Einkommensverhältnissen schaffen, friedlich mit einander zu leben. Gäbe es in Europa eine vergleichbare religiöse, ethnische und soziale Vielfalt, wären die Unruhen und Zwischenfälle deutlich häufiger. Ich erwähne diese Zustände nicht, um hier die indische Bevölkerung schlecht zu machen. Das wäre zutiefst unangemessen, denn in jedem Land und in jeder Kultur gibt es gute Menschen, die Respekt, Freundschaft und Anerkennung verdienen. Ich erwähne sie, weil ich viele Inder getroffen habe, die über die Zustände in ihrer Heimat entsetzt sind und für die es mehr als peinlich ist, wenn schlecht informierte New-Age-Freunde ihre Heimat als spirituelles Wunderland preisen.
Probleme mit der Reinheit
Jeder Mensch wird jeden Tag verunreinigt. Du musst nur aus der Tür hinaus treten, und die Reinheit Deiner Klasse ist bedroht. Es gibt Millionen von unreinen und verbotenen Sachen in der weiten Welt, und jeder Hindu hat viel zu tun, um sauber und rein zu bleiben. Ein tägliches Bad und eine Verehrungszeremonie sind die Grundlagen, um den spirituellen und gesellschaftlichen Status aufrechtzuerhalten. Der Umgang ist das Nächste: Selbst das Sprechen mit einem Niederen bedeutet Verunreinigung. Öffentliche Verkehrsmittel waren im frühen Hinduismus kein Thema, heute aber schon. Nur wenige Neuerungen haben die Klassentrennung je so sehr gefährdet wie eine Fahrt mit dem Zug oder Bus. Mit dem Essen ist es ganz besonders schwierig. Die hinduistische Theologie ist vom Essen so besessen, dass es nur von Menschen der gleichen oder einer höher stehenden Klasse angenommen werden kann. Jeder ist dazu angehalten, mit Leuten desselben Varṇa zu essen und zu trinken. Beim Reisen wird dies offensichtlich zum Problem. Um es mit den unvermeidlichen Verunreinigungen aufzunehmen, wurden kleinere Riten erfunden. Wenn man Essen von einem niedriger stehenden Händler kauft, muss man es durch ein Ritual oder durch den Kontakt mit heiligen Substanzen reinigen, wie den fünf Juwelen der Kuh. Vasiṣṭha 6, 27 stellt fest, dass ein Brahmane, der mit Essen im Bauch stirbt, das er von einem Śudra annahm, im nächsten Leben ein Schwein sein wird. Alles Studium des Veda und anderer Schriften hilft da kein bisschen. Arme Brahmanen werden oft Köche. Ihr Varṇa ist so hoch, dass jeder Essen von ihnen annehmen kann. Das Ergebnis all dessen ist ein erstaunlich komplexer Bestand an Ernährungsregeln. Man findet eine große Besessenheit von der Ernährung in vielen Upaniṣaden , und die Dinge wurden im Laufe der Jahrhunderte nicht einfacher.
Erinnere Dich hieran, wenn Du tantrische Texte liest. Wenn die Kulas und Kaulas erklären, dass es keine Ernährungsregeln gibt, dass Ritualessen von überall stammen kann, dass die Adepten essen können, was sie wollen und mit wem sie wollen, dann ist das ein enormer Bruch mit den gesellschaftlichen und religiösen Normen. Dasselbe gibt es bei manchen geheimen Ritualgruppen, bei denen, zumindest für die Dauer des Zusammenseins, die gesellschaftlichen Klassen abgeschafft sind. Dass Kula- und Kaula-Rituale die Verehrung mit und von Frauen beinhalten, ist ein weiterer Bruch mit der vedischen Tradition. Eine Frau aus einer niederen Klasse als Göttin zu verehren oder mit ihr zu schlafen, ist für Traditionalisten undenkbar. Noch schlimmer ist es, wenn unreine Substanzen wie Körperausscheidungen geschätzt und eingenommen werden. Ausländern mögen solche Handlungen nicht viel bedeuten, aber für strenggläubige Traditionalisten bedeuten sie Anarchie und Ketzerei. Solche Taten bedrohen die gesellschaftliche Stabilität – ein Grund mehr, weshalb bestimmte tantrische Kulte nicht beliebt sind.
Die spirituelle Reinheit wird auch bedroht durch den Kontakt mit toten Menschen oder Tieren, mit Häuten, Exkrementen, Körperausscheidungen und einem weiten Bereich von unglücklichen Menschen. Verunreinigend sind Verbrecher, Mörder, klassenloses Volk, uneheliche Kinder und Frauen, besonders, wenn sie nackt sind. Manche frühen Texte empfehlen, dass sich Männer durch Amulette schützen sollten, wenn sie sich Frauen nähern, und an manchen Tagen (und in vielen Nächten) sollten sie sich Frauen überhaupt nicht nähern. Die Menstruation ist eine solche Zeit; Einzelheiten darüber gibt es später. Schwangerschaft ist eine weitere gefährliche Zeit, Geburt ist schlimm, und Hochzeiten und Todesfälle in der Familie verlangen nach speziellen Ritualen und Reinigungen. Die Vielfalt der Reinigungsriten ist erdrückend. Es gibt einfache Riten zur Reinigung von Speisen durch 108- bis 1008malige Wiederholung des Gāyatrī-Mantra; ernsthaftere Verunreinigungen können Wochen ritueller Bäder, Gebete, Opfer, Geschenke an Brahmanen, Kasteiungen, Fasten und das Tun guter Taten erfordern. Manche Sünden wie die, über den Ozean zu reisen, Indien zu verlassen, ein Kind von einer Śudra-Frau zu haben, Mord oder das Bestehlen eines Brahmanen waren so bedrohlich, dass ein Hindu dafür seine Klasse verlor und sie nur mit großen Kosten und Anstrengungen wiedererlangen konnte.
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