Bild 14
Göttliche Köpfe
Oben: Kopf von Pārvatī oder Umā, Terrakotta in Gupta-Stil, 5. Jahrhundert.
Śiva-Tempel von Ahiccattrā.
Unten Kopf von Śiva, Terrakotta in Gupta-Stil, 5. Jahrhundert.
Śiva-Tempel von Ahiccattrā.
Auf eine ähnliche Art kam Indien zur mesopotamischen Astrologie, wenn auch in einer griechischen Form, und passte sie an die eigenen Bedürfnisse an. Pythagoras reiste, soweit dies rekonstruiert werden kann, durch Mesopotamien, wo er mit anspruchsvoller Mathematik und Musiktheorie vertraut gemacht wurde, die dort vor 1500 Jahren entwickelt wurde, und erfuhr wahrscheinlich in Indien von Wiedergeburt und Vegetarismus. Bei seiner Rückkehr gründete er seine eigene philosophische Schule, die Jahrhunderte später eine echte Konkurrenz zum jungen Christentum darstellte. Ein ähnliches Ausmaß an Handel und kulturellem Austausch fand mit den Ländern östlich von Indien statt, hauptsächlich mit China. Hinduistische Religionen wurden zwischen dem 2. Jahrhundert v.u.Z. und dem 6. Jahrhundert auch in die Länder Südostasiens exportiert. In Indien begannen Autoren nicht nur, über 200 neue Upaniṣaden zu produzieren, sondern auch eine Flut von Gesetzestexten, Poesie und schließlich zwei gewaltige epische Dichtungen, das Mahābhārata in 100.000 Doppelversen und das etwas kürzere Rāmāvaṇa.
Oberflächlich gesehen befassen sich beide Epen mit Heldentum. Ersteres ist ein ausgedehnter Bericht über die Schlachten und Konflikte zweier Zweige einer königlichen Familie, unter deren Mitgliedern viele inkarnierte Gottheiten waren. Das zweite, jüngere und kürzere Stück, legt das Leben des Rāma (‘Dunkler’, ‘Freude’, ‘Lust’ – einer Inkarnation von Viṣṇu) dar, seine Hochzeit mit Sīta (Ackerfurche), ihre Entführung durch einen Dämon und ihre Errettung. Diese Werke entwickelten sich über Jahrhunderte hinweg und erreichten schließlich enzyklopädische Ausmaße. Keine anderen Werke hatten einen so tiefgehenden Einfluss auf das indische Denken. Und das zu Recht – in der ganzen epischen Weltliteratur stehen beide Werke als unerreichbare Spitzenleistungen da. Bis zum heutigen Tag rezitieren Priester und Geschichtenerzähler Episoden aus diesen Epen, und da dies im archaischen Saṁskṛta geschieht, und obwohl meisten der Zuhörer kaum mehr als die Namen und ein paar Worte hier und da verstehen, sind diese Ereignisse nicht nur populär, sondern heilig. Als das Mahābhārata als endlose Serie im Fernsehen gezeigt wurde, dekorierten fromme Hindus ihre Fernseher mit Blumen und verbrannten Räucherwerk. An diesen Geschichten teilzuhaben, bedeutet, Verdienst und Segen zu erringen und Erlösung von vergangenen Sünden zu finden. Ein weiteres solches Feld der literarischen Evolution waren die (ursprünglich) achtzehn Purānas (‘Uraltes’, ‘Mythe’), in denen ein enormes Ausmaß an Mythologie, Ritualen, Hymnen, wissenschaftlichen Diskursen, Geografie, Kosmologie, Genealogien und alles, was ihre Autoren faszinierte, niedergeschrieben ist. Diese Werke können als Enzyklopädien betrachtet werden. Manche waren einzelnen Gottheiten gewidmet; andere versuchten, die Spannungen zwischen den heranwachsenden Kulten von Śiva und Viṣṇu zu verringern, indem sie nett zu allen waren. All diese Literatur ist komplex, stilistisch ausgefeilt und voller Widersprüche. Das hat die Inder nie besonders gestört: Es gab niemals ein einziges Dogma für irgendetwas.
Dharma und das Muster der Gesellschaft
Mit dem Aufkommen des frühen Hinduismus beobachten wir eine zunehmende Bedeutung des Dharma. Der Dharma ist ein Begriff, der ursprünglich zur Bezeichnung der kosmischen Ordnung verwendet wurde. Diese Ordnung spiegelte sich in der Gesellschaft und im Leben jedes Lebewesens wieder. Viele Konzepte flossen in dieses Paket ein. Dharma kann Harmonie, Wahrheit, Richtigkeit bedeuten, es kann die Naturgesetze meinen, und auf das menschliche Verhalten angewandt ist es die Macht, welche Menschen an ihre Position in der Gesellschaft bindet. Indem er den Pflichten seiner Klasse folgt, unterstützt jeder Hindu den Dharma, durch Verletzung der gesellschaftlichen Gesetze wird der Dharma bedroht. Dharma durchdringt den ganzen Korpus der hinduistischen Religion. Er ermöglicht Verbindungen, die in anderen Philosophien nicht existieren. Eine Sünde oder ein Verbrechen kann, weil es den menschlichen Dharma verletzt, Rückwirkungen in der natürlichen Welt haben. Ein sündiger König, ein Herrscher, der die Riten missachtet oder ein religiöses Tabu bricht, verletzt den Dharma, und dies kann zu Unwettern, Seuchen oder dem Einfall von Feinden führen. Korrupte Priester, Könige und Minister können eine Bedrohung der Ordnung auf allen Ebenen darstellen. Die soziale Welt, die natürliche Welt und die göttliche sind nicht getrennt, sie sind ein Dharma, und eine Beschädigung vom Dharma kann sie alle erschüttern. Natürlich war Dharma mehr als nur ein Prinzip, er war auch eine Kraft und wurde auch als eine Gottheit betrachtet. Der wichtigste Aspekt des Dharma im täglichen Leben war die Aufgabe jedes Wesens, seine natürlichen Verpflichtungen zu erfüllen. Pflanzen folgten dem Dharma, Tiere folgten dem Dharma, Götter folgten dem Dharma, und den Menschen oblag es, dasselbe zu tun. Das alles wäre wunderschön, wenn es nicht die soziale Ordnung so extrem belastet hätte. Betrachte einfach mal das eng verwandte chinesische Konzept des Dao. In vieler Hinsicht sind der Dharma und das Dao identisch. Beide Ideen beschreiben eine Weltordnung, in der Wesen und Dinge ihrem natürlichen Wesen folgen und sich alle Ebenen des Seins gegenseitig beeinflussen. Die Chinesen verzichteten nur darauf, aus dem Dao ein gesellschaftliches, zwanghaftes Regelwerk zu machen, und gerade deshalb ist das Dao so erfrischend lebendig, während der Dharma immer wieder zur einem Mittel der Unterdrückung wurde. Im Laufe dieses Prozesses wurde das Klassensystem immer komplexer. Während sich die späten Veden mit drei oberen Klassen und einer unteren zufrieden gaben (plus einer ganzen Menge klassenloser Bevölkerung), entwickelte der frühe Hinduismus immer mehr Klassen. Gleichzeitig wurden die Trennungen zwischen den Klassen immer rigider. Späte vedische Texte erwähnen noch einen guten Anteil von Klassenwechsel durch Vorzüge, Verdienste und Heirat (insbesondere zwischen Brahmanen und Kriegern). Die frühe Hindu-Literatur hielt nichts von Derartigem. Wir beobachten eine Ausuferung der Klassenunterschiede. Dies kam durch die Einbeziehung weiterer Segmente der Gesellschaft, dem Bedürfnis nach einem Platz für neue Berufe und ethnische Gruppen in der Hackordnung usw. Bis zum heutigen Tag streiten die Gelehrten darüber, wieso das Klassensystem so übertrieben und repressiv wurde. Angeblich gab es zur Zeit von Manu (einem von ihnen – in jedem Weltzeitalter wurde ein Manu geboren) schon mehr als fünfzig Klassen. Das Klassensystem funktionierte, indem es jeder Person ihren Dharma und damit eine Aufgabe und Verpflichtung in der Welt gab. Es funktionierte auch deshalb, weil es allen Neuankömmlingen eine Nische in der Gesellschaft zuerkannte. Dies ist wichtig: Jeder neue Einfluss konnte integriert werden. In einer Packung mit Klassen und Dharma waren Karman, Reinkarnation und Reinheitsgebote.
Nun hängt der Status des Einzelnen in der Gesellschaft nicht nur von dem Varṇa (Farbe, soziale Klasse, Wesen, Art) ab, sondern auch von Jāti. Die Jāti ist ein für Nichtinder extrem schwieriges Konzept. Sie ist keine vedische Idee, sondern eine, die sich mit dem frühen Hinduismus zusammen entwickelte. Jāti beschreibt, grob gesagt, welchen speziellen Gruppen in der Gesellschaft eine Person angehört. Die Jāti kann Geburt, Herkunft, Verwandtschaft, Clan oder Familienverhältnis sein. Sie kann auch die Verbindung zu speziellen religiösen Gruppen sein, zu Provinzen, Land, Beruf, ethnischem Hintergrund usw. Dies sind die feinen Details, die den persönlichen Status spezifizieren, der durch den Varṇa gegeben ist. Jāti kann den Varṇa auch transzendieren. Leute mit einem hohen Einkommen können gut einen Status erlangen, der viel höher ist als ihr Varṇa. Brahmanen, obwohl theoretisch die Köpfe der Gesellschaft, haben oft ein minimales Einkommen und sind froh, einen Job als Lehrer, Buchhalter oder Koch zu bekommen. Krieger und Brahmanen sind oft von Geldverleihern abhängig, um ihren Platz in der Gesellschaft zu bewahren, und Kaufleute machen mitunter mehr Geld als beide zusammen. Ärzte wurden oft als unrein betrachtet, weil sie mit Ausscheidungen, Blut, Leichen und anderen schmutzigen Substanzen in Berührung kamen. Heutzutage hat sich ihr Status dank ihrer hohen Gehälter erstaunlich verbessert. Dazu kommt die weitverbreitete Vorliebe, die eigene Vergangenheit aufzubessern.
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