Rechnete man die Frauen dazu, die in sogenannten »ungesicherten Wohnverhältnissen« lebten, also bei jemandem unterkamen, bei dem sie sich in der Regel sexuell revanchieren mussten, war die Zahl der weiblichen Obdachlosen noch einmal erheblich höher. Die meisten wohnungslosen Menschen befanden sich in einer ausweglosen Situation. Vielen von ihnen fehlte eine ordentliche Ausbildung. Ohne festen Wohnsitz gab es keinen Arbeitsplatz, ohne Arbeitsplatz fand man keine Wohnung. Oftmals konnte man sich nach dem Verlust der Arbeitsstelle oder einer Scheidung seine Wohnung nicht mehr leisten. Hatte man erst einmal Mietschulden oder aus anderen Gründen einen Eintrag bei der Schufa, war es beinahe aussichtslos, eine neue Wohnung zu finden. Hinzu kam, dass viele Obdachlose unter posttraumatischen Belastungsstörungen oder anderen psychischen Erkrankungen litten, jedoch in den seltensten Fällen von den Behörden entsprechende Hilfe erhielten. Selbst ein nächtlicher Platz in einer Notunterkunft war für manche keine Lösung. Viele Obdachlose scheuten solche Einrichtungen, weil dort keine Hunde und kein Alkoholkonsum erlaubt waren, und blieben auch bei hohen Minusgraden lieber auf der Straße. Wie beschämend war das alles für eine Wohlstandsgesellschaft!
Hartmann unterbrach Glanders düsteren Gedankengang. »Die Hilfen reichen hinten und vorne nicht. Die Betroffenen brauchen ja nicht nur ein Bett und ein Dach über dem Kopf, sondern fast alle benötigen auch Hilfe bei dem ganzen Papierkram. Da werden Leistungen aus den absurdesten Gründen verweigert oder gestrichen. Und richtige Unterstützung, um wieder auf eigenen Beinen stehen zu können, kriegt niemand. Die Frauen brauchen ganz einfach jemanden, der ihnen unter die Arme greift. Denn die üblichen Dinge des Alltags stellen sie oft vor gewaltige Probleme. Sie sind oft depressiv oder leiden an anderen psychischen Erkrankungen. Und was denen dann teilweise auch noch auf der Straße passiert … Aber davon will natürlich keiner etwas wissen. Es ist einfach zum Kotzen, wie sich all die vermeintlichen Christen in unserem Land vor der Verantwortung drücken und in Kauf nehmen, dass direkt vor ihren Augen Menschen kaputtgehen!«
Das gilt auch für mich, dachte Glander. Er war zwar kein gläubiger Christ, aber auch er sah lieber weg, wenn er Obdachlosen begegnete oder ihm jemand den Straßenfeger verkaufen wollte. Alles junge Männer, die doch Arbeit finden müssten, wenn sie sich nur ein bisschen bemühen würden. Aber wer stellt schon jemanden ein, der nicht mal eine Wohnadresse angeben kann!, schalt Glander sich in Gedanken selbst. Kurz entschlossen sagte er zu Thomas Hartmann: »In Ordnung, Thomas, ich muss noch etwas erledigen und bin gegen Mittag wieder im Eifelviertel. Dann melde ich mich bei dir. Ich brauche dann mehr Informationen. Und du wirst sicher wissen wollen, was dich das Ganze kostet.«
Thomas Hartmann lachte ohne jede Spur von Humor. »Ich hätte nicht wenig Lust, der Polizei die Rechnung aufs Auge zu drücken. Aber egal, ich will Gerechtigkeit für diese Frauen.«
Gerechtigkeit … Dieses Wort hatte Glander lange nicht mehr gehört.
Keinen Kilometer Luftlinie entfernt sinnierte Lea vor sich hin. Sie wartete auf Talisker, der sein Geschäft in einem Dickicht neben dem BUGA-Wanderweg verrichtete, der zwischen Lichterfelde Süd und dem brandenburgischen Teltow verlief. Dieser Winter war selbst für Berliner Verhältnisse hart. Die letzten Wochen und Monate waren zwar nicht so bitterkalt wie manch andere Winter gewesen, dafür waren sie von einer klammen Düsternis geprägt, die selbst Lea aufs Gemüt geschlagen war, obwohl sie beileibe nicht zur Depressivität neigte. Es schien Lea, als sei die Sonne Anfang Dezember untergegangen und habe sich seitdem nicht wieder gezeigt. Vor ein paar Tagen waren die Temperaturen dann deutlich gefallen, und Lea war sich sicher, dass es bald schneien würde. Schnee im Februar brauchte wirklich niemand in Berlin. Einmal mehr käme der Winter um Wochen zu spät, das Weihnachtsfest war wie in so vielen vergangenen Jahren verregnet gewesen. Es waren wahrlich keine fröhlichen Gedanken, die auf den wunderbaren Tagesauftakt folgten.
Lea machte sich Sorgen. Sie hätte Martin sofort von dem Anruf erzählen müssen. Jetzt wurde es immer schwieriger, und doch musste sie mit ihm darüber reden. Am Montag begann ihr neuer Job, und sie kannte sich: Verheimlichen konnte sie es nicht, und dann würde Martin es ihr zu Recht übel nehmen, dass sie ihm nichts von ihrem Auftrag erzählt hatte.
Sweet Bejeesis! Sie hatte sich setzen müssen, so perplex war sie gewesen, als sie vierzehn Tage zuvor den Anruf von Connor Fraser erhalten hatte. Detective Chief Superintendent Fraser – er hatte nach seinem Studium eine Karriere bei der schottischen Kripo gemacht. Seine Stimme hatte sie unmittelbar auf eine Reise die Memory Lane hinuntergeschickt, direkt in ihre Vergangenheit. Sie hatte über zwanzig Jahre keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt und über zwei Jahre so gut wie gar nicht an ihn gedacht, doch die Erinnerungen waren sofort wieder so deutlich gewesen, als wäre alles erst vor Kurzem geschehen.
Talisker brauchte ewig, schien es Lea. Aber ein Hund seiner Größe produzierte nun einmal nennenswerte Haufen, das dauerte seine Zeit. Vielleicht hatte er auch nur eine interessante Fährte in der Nase. Sie fröstelte und wollte nach Hause zu ihren Unterlagen, denn sie wusste genau, dass ihre Gedanken in gar keine gute Richtung liefen, wenn sie Zeit zum Nachdenken hatte.
Connor war ihre erste große Liebe gewesen. Love at first sight. Ohne zu übertreiben, es hatte sich um Liebe auf den ersten Blick gehandelt. Und die war so heftig, haltlos und hitzig gewesen, wie man sie wohl nur in jungen Jahren erleben konnte, wenn einen das Leben noch nicht enttäuscht hatte, einem das Herz noch nicht gebrochen worden war und man noch nicht schmerzhaft hatte lernen müssen, sich vor den eigenen Gefühlen zu schützen.
Lea hatte sich im ersten Jahr an der Universität in Stirling befunden, als Hauptfächer hatte sie Anglistik und Germanistik gewählt, im Nebenfach hatte sie Psychologie belegt. Connor studierte bereits Computing Science im letzten Semester und war im Rugbyteam der Uni. Sie lief gerade in Begleitung einiger Kommilitoninnen den Flur der Sporthalle hinunter, als er den Kopf aus einer Umkleidekabine steckte und laut fluchend nach jemandem rief. Das Gefühl, das sie in jenem Moment durchflutete, war unbeschreiblich. Es schien ihr, als breite sich eine unglaublich große Portion Schlagsahne rasend schnell in ihr aus, wunderbar cremig geschlagen und mit reichlich Vanillezucker versetzt. Ihr Atem stockte, ihr Herz setzte einen Takt lang aus, und ihre Knie wurden weich, beinahe beängstigend. Dann folgte eine wohlig-warme Freude. Connor sah sie an und zwinkerte ihr zu, bevor die Tür wieder zuging.
Als sie ihre Kommilitoninnen fragte, wer das gewesen sei, grinsten die sie kopfschüttelnd an und rieten ihr, die Finger von ihm zu lassen. Connor Fraser sei in der ganzen Universität bekannt wie ein bunter Hund, in erster Linie nicht etwa wegen seines Rugbyrekords – kein Student hatte damals mehr Dropkicks erzielt als »KC«, Kickin’ Connor Fraser –, sondern seiner Frauengeschichten wegen: Er sei der unumstrittene Campus-Casanova. Die Mädchen hatten Lea gewarnt, nicht einmal daran zu denken, sich auf ihn einzulassen, da er ihr nur das Herz brechen würde. Doch gegen ihre Gefühle war sie machtlos gewesen. Sie hatte alle Warnungen in den Wind geschlagen und sich, bis über beide Ohren verliebt, in eine Liaison mit Connor gestürzt. Die Rechnung war vergleichsweise spät gekommen – aber sie war unweigerlich gekommen.
Ihre letzte Begegnung mit Connor hatte tiefe, hässliche Spuren hinterlassen. Und Lea war sich ganz und gar nicht sicher, ob es eine kluge Entscheidung gewesen war, seiner Bitte um Unterstützung während der bevorstehenden Tagung nachzukommen. Sein Dolmetscher habe einen Unfall gehabt, und er brauche dringend einen Ersatz, hatte er erklärt. Er habe sofort an Lea gedacht, weil doch die Tagung in Berlin stattfinde. Nach einer kleinen Recherche habe er zu seiner freudigen Überraschung festgestellt, dass sie tatsächlich Dolmetscherin geworden war. Nun hoffe er, sie würde ihm und seinem Team aus der Patsche helfen, hatte er gesagt.
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