Das fehlte Prinz gerade noch! Er riss sich zusammen, um Kompetenz auszustrahlen. »Herr Hartmann, zunächst einmal bin ich Hauptkommissar. Mein Dienstgrad sollte Ihnen verdeutlichen, dass wir diesen Vorfall durchaus ernst nehmen. Und die Presse zu involvieren wird nicht nötig sein. Wir tun alles in unserer Macht Stehende, um den oder die Täter zu ermitteln. Morde im Obdachlosenumfeld erfordern eine spezielle Vorgehensweise, die selten von sofortigen Erfolgen gekrönt ist. Ich muss Ihnen sicher nicht erklären, dass es oft schon schwierig genug ist, die Namen der Opfer in Erfahrung zu bringen, geschweige denn Angehörige ausfindig zu machen. Obdachlose tragen meist keine Papiere bei sich, sind nirgendwo gemeldet, und die Erfahrung zeigt zudem, dass die Menschen aus diesem Milieu die Polizei nicht freiwillig bei deren Ermittlungen unterstützen.«
»Es ist mir egal, was Sie tun müssen, um diese Morde aufzuklären. Tun Sie es einfach, sonst informiere ich nächste Woche die Presse!« Hartmann schickte sich an zu gehen, drehte sich dann aber noch einmal zu Prinz um. »Sie hieß Greta. Greta Langner. Sie kam aus der Nähe von München. Und sie hatte eine wunderschöne Stimme. Sie hätten sie mal singen hören sollen. Sie sang jeden Abend dasselbe Lied … Das war einfach unglaublich schön.« Dann schlug er den Kragen seiner dick gefütterten Winterjacke hoch und ging mit schnellen Schritten in Richtung des Eifelviertels, in dem das kleine Reihenhaus stand, das er mit seiner Frau Sabine bewohnte.
Jeanny war sechzehn, fühlte sich aber wie dreißig. Sie hatte keine Kindheit gehabt, die man als schön hätte bezeichnen können. Spätestens als ihr Vater begonnen hatte, sie anzufassen, war diese beendet gewesen. Da war sie sechs Jahre alt. Die Menschen in ihrer Umgebung nahmen an, der Schulstart mache ihr zu schaffen, als sie immer stiller wurde und sich zurückzog. Kurz nach ihrem neunten Geburtstag, als ihre Mutter die Nachtdienste übernehmen musste, kam der Vater das erste Mal in ihr Bett. Mit dreizehn ertrug sie es nicht mehr. Niemand merkte, was los war, und Jeanny wusste, dass sie sich alleine helfen musste. Also hatte sie einen Rucksack gepackt und das Weite gesucht. Jeanny hatte endlich an einen friedlichen Ort gewollt, an einen Ort, an dem sie nicht auffiel. Die ersten Monate auf Trebe waren ganz okay gelaufen, doch dann war es draußen genauso beschissen geworden wie zu Hause. Seitdem lebte sie auf den Straßen Berlins. Das war nach wie vor weit entfernt von dem, was sie sich wünschte, aber es war allemal besser als ihr Leben davor. Hier entschied sie selbst, wer sie anfassen durfte und wer nicht. Meistens jedenfalls.
Jeanny hatte Greta unbedingt zeigen wollen, was sie dem dämlichen Schnösel abgenommen hatte, als der auf einer Bahnhofstoilette am Südkreuz mit ihr beschäftigt gewesen war. Sie hatte Glück gehabt, der Idiot hatte wenigstens einen passablen Musikgeschmack. Auf seinem Smartphone, das sie aus seiner Jackentasche gefischt hatte, waren ganz gute Titel, aber auch eine Menge Songs, die sie nicht kannte. Sie hatte angenommen, dass Greta ihr etwas dazu sagen könnte. Die war schon sehr alt, bestimmt vierzig oder so. Greta war immer am Singen. Die anderen Frauen im Kiez erzählten sich, dass sie mal was mit Musik zu tun, viele Jahre im Ausland gelebt und sogar eine Familie gehabt habe. Backgroundsängerin sei sie gewesen, sogar für die irische Rockband U2, raunte man. Greta selbst hatte nie über ihre Vergangenheit gesprochen. Aber mit Musik hatte sie sich ausgekannt.
Jeanny lehnte sich gegen einen zurückgelassenen Traktorreifen auf einem bewachsenen Streifen inmitten des großen Felds kurz hinter dem Berliner Stadtrand. Sie hatte Thomas angerufen. Der würde wissen, was zu tun war. Sie selbst wollte auf keinen Fall mit den Bullen reden, das hatte sie ihm auch deutlich gesagt. Dann war sie einfach losgelaufen, durch die Hochhaussiedlung, die Osdorfer Straße entlang, dann die Ausfallstraße hinaus aus Berlin. Bei dem großen Feld war sie abgebogen und dem Trampelpfad entlang des Grünstreifens gefolgt, bis sich die Tränen ihren Lauf gebahnt hatten. Nun kauerte sie an dem Reifen und weinte hemmungslos.
Jeanny hatte immer genau gewusst, wo sie ihre ältere Freundin finden konnte, und war überrascht gewesen, sie an diesem Morgen nicht an der üblichen Stelle vor dem Supermarkt an der Stadtgrenze anzutreffen. Von den Mitarbeitern dort hatte Greta häufig kurz vor Ladenöffnung angestoßenes Obst oder ein Stück Gebäck oder Brot vom Vortag bekommen. Erst nach einer Stunde vergeblicher Suche an den anderen Ecken und Hauseingängen in der Thermometersiedlung und der unmittelbaren Umgebung, an denen sich Greta üblicherweise tagsüber aufgehalten hatte, war Jeanny zur Unterführung in der Fürstenstraße gegangen. Greta hatte sich dorthin sonst immer erst abends zurückgezogen, um ihre Fotos anzuschauen. Jeden Abend um dieselbe Zeit an derselben Stelle. Im Winter hatte sie im spärlichen Licht ihres Feuerzeugs kaum etwas sehen können, aber sie war trotzdem jeden Abend die Fotos durchgegangen, leise vor sich hin murmelnd. Wenn sie fertig gewesen war, hatte sie ein Lied angestimmt, immer dasselbe. Ihre Altstimme war so klar gewesen, und Jeanny war ein jedes Mal fast zu Tränen gerührt. Es war ein Schlaflied aus einem englischen Kinderfilm der späten Sechzigerjahre, wie Greta Jeanny einmal erklärt hatte. Es handelte vom Vergessen seiner Sorgen:
A gentle breeze from Hushabye Mountain
Softly blows o’er Lullaby Bay.
It fills the sails of boats that are waiting,
Waiting to sail your worries away …
Jeanny ließ ihren Blick über das weite Land und den wolkenschweren Himmel schweifen. Hier war alles so friedlich und ruhig. Nichts ließ einen an diesem Ort von der Schlechtigkeit der Welt ahnen, die Natur war so wunderschön, selbst im kargen Winter. Jeanny wäre gern einfach hiergeblieben, doch die Jahre auf der Straße hatten sie gelehrt, die Kälte nicht zu unterschätzen. Erst machte sie einen müde, dann tötete sie einen. Alles war gegen einen, wenn man nicht auf der Hut war. Also wischte sich Jeanny die Tränen aus dem Gesicht und stand auf. Heute wollte sie nicht sterben. Heute nicht.
Diese wundervolle Frau hat mich ausschlafen lassen, war Martin Glanders erster Gedanke, als sein angenehmer postkoitaler Traum am späten Vormittag rüde durch das Klingeln seines Handys beendet wurde. Er setzte sich im Bett auf und strich sich durchs straßenköterblonde Haar. Das Handy gab die unverwechselbare Titelmelodie der TV-Serie Die Profis wieder. Glander war vermutlich der einzige Handybesitzer, der seinen Klingelton noch nie gewechselt hatte. Die beiden MI5-Agenten Bodie und Doyle waren in den frühen Achtzigern die Helden seiner Jugend gewesen, er hatte keine Folge versäumt und griff immer noch gerne zu den DVDs der Serie, die er wie seinen Augapfel hütete.
»Glander«, meldete er sich.
»Hallo, Martin! Hier ist Thomas, Thomas Hartmann.«
Thomas und Sabine Hartmann wohnten ein paar Querstraßen entfernt von ihm und Lea im Eifelviertel. Beide waren Chemiker und besaßen eine wilde Mischlingstöle namens Bismut mit einer diesem chemischen Element entsprechenden Fellfarbe und ausgeprägt diamagnetischen Reaktionen auf jegliche Leitungsversuche ihrer Besitzer. Lea war locker mit den Hartmanns befreundet. Als Hundebesitzer kannte man einander im Viertel, und Bismut benahm sich nur, wenn Talisker in der Nähe war. Lea und Glander waren dem Ehepaar vor vier Wochen zufällig im »Loch Ness« begegnet, einem Pub in Lichterfelde West, zu dessen Stammgästen auch Glander gehörte, seit er zu Lea gezogen war. Eine umfangreiche Auswahl an exzellenten Malts und ein unglaublich gutes Stout aus einer der ältesten Brauereien Schottlands übten auf ihn keine geringe Anziehungskraft aus. Es war ein kurzweiliger Abend gewesen, und Glander erinnerte sich an die Schilderungen der Hartmanns über ihre ehrenamtlichen Tätigkeiten. Ihr Engagement hatte ihn stark beeindruckt. Sich den trostlosen Seiten der Gesellschaft zu stellen war nicht einfach, das wusste er selbst aus zwanzig Dienstjahren beim Berliner Landeskriminalamt zur Genüge. Und auch die Fälle, die er übernahm, seitdem er ausgestiegen war und sich als privater Ermittler selbstständig gemacht hatte, waren in der Regel keine fröhlichen Geschichten.
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