Schroeder wurde bei seinem Chef vorstellig und bat ihn, einen Aufruf über TT – Tower Television machen zu dürfen. Wolf fand die Idee ganz brauchbar und so wurde ein paar Tage später die Meldung verbreitet, dass die Turmbewohner sich bei Orion melden sollten, falls sie etwas wussten. Aber es meldete sich keiner, der Brauchbares zu berichten hatte. Und so verlief auch diese Aktion im Sande.
Es vergingen die Tage und Wochen, ohne dass die beiden Spürnasen in diesem Fall weiterkamen. Zwischenzeitlich kümmerten sie sich deshalb um andere harmlosere Fälle. In der Folge ging auch der Wettbewerb im Turm vorüber – natürlich mit Alex Winter als Gewinner, denn Sören Maibach war ja irgendwie verhindert. Jedoch hatte die ganze Zeit hindurch Schroeder das ungute Gefühl, etwas sehr Wichtiges im Fall der vier Verschwundenen übersehen zu haben. Er nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit sich noch mal intensiv mit diesem Fall zu beschäftigen. Natürlich würde er das mit Fritsche zusammen machen – vier Augen sehen schließlich mehr als zwei. Fritsche hatte ein Auge für Besonderes und das konnten sie gebrauchen, wenn sie die Verschwundenen finden wollten.
Zwischenspiel
Der Schmerz holte Melany jäh in die Wirklichkeit zurück. War sie bis eben in einem Land der Albträume gefangen gewesen, hatte dieser plötzliche Schmerz sie in die Realität hereingerissen. Er wütete in ihrem Unterleib, zog, drückte, stach und schien sie von innen aufzuschlitzen.
Was war das nur? – Und wo bin ich?
Sie konnte sich nur schwach erinnern. Hatte sie nicht einen Generator repariert? Was war denn bloß danach passiert? Warum konnte sie nichts sehen, sich nicht bewegen? Diesem unbeschreiblichen Schmerz, der in ihr tobte, nichts entgegensetzen. Sie konnte nicht mal schreien, ihr schien irgendwas im Hals zu stecken, das ihre Stimme blockierte.
Aufhören, bitte aufhören!, flehte sie stumm und versuchte sich aufzurichten. Aber es ging nicht, etwas hielt sie mit Gewalt in ihrer Position fest. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr Unterleib aufplatzen und sich jemand von innen herausschneiden. Eine unsagbar böse Kraft stülpte sie um und der Schmerz raubte ihr fast den Verstand.
Oh Gott, was passiert mit mir?
Es hörte nicht auf, wütete immer weiter in ihr. Doch urplötzlich war der Schmerz vorbei, als wäre dieses Etwas nun aus ihr heraus ans Tageslicht gekrochen und sie dabei von innen nach außen gedreht worden. Da kam schlagartig der Schmerz zurück, brannte in ihren Eingeweiden wie Feuer und schnitt in ihr Fleisch. Sie merkte noch, wie sie langsam in die Welt der Albträume zurücksank, ihr Geist verwirrte sich und sie fiel und fiel. Doch es war nicht die Welt der Albträume, sondern die Welt der absoluten Schwärze, aus der es kein Zurück mehr gab! Doch das wusste Melany nicht, sie merkte nur, dass der Schmerz weg war, endlich!
Dann war nur noch Dunkelheit.
Orion und Fritsche standen im Büro von Schroeder vor einer großen Wand. Sie hatten die Fotos der vier Verschwundenen, Portraits und Ganzkörperaufnahmen, an die Wand gepinnt. Dazu die Bilder der Tatorte. Alles schön geordnet und übersichtlich.
„So, Fritsche. Schauen wir mal, ob uns nicht doch etwas auffällt.“
„Jo, Chef.“
Minutenlang standen die Beiden wie versteinert da und betrachteten in aller Ruhe die Aufnahmen. Ihre Köpfe arbeiteten auf Hochtouren. Da räusperte sich Hyroniemus.
„Wenn ich mir die Portraits anschaue, kann ich nichts entdecken. Aber auf den Bildern, die die Verschwundenen in voller Größe zeigen, fällt mir auf, dass sie alle eine relativ große Oberweite haben. Na, bis auf Maibach, der ist ja ein Mann.“
„Stimmt, Fritsche. Das wäre schon mal etwas, was alle gemeinsam haben. Ist zwar eine ziemlich abgefahrene Gemeinsamkeit, aber es ist eine! Schauen wir uns doch mal die Fotos der Tatorte an, vielleicht gibt es da etwas, das wir bis jetzt übersehen haben.“
Die beiden versenkten sich wieder in den Anblick der Aufnahmen und schwiegen minutenlang. Etwas musste da ja sein!
Orion kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und fixierte die Fotos auf das Genaueste. Die Spannung schien durch das Büro zu knistern und da fiel es Schroeder wie Schuppen von den Augen. Er schnappte sich einen Marker und ging zur Wand. Foto für Foto ging er durch und malte Kreise um etwas drum herum.
„Fritsche, ich glaube, das ist es! Das, was wir bis jetzt übersehen haben, etwas, was alle Tatorte gemeinsam haben. Sieh es dir an!“
„Verdammt, du hast recht, Chef! Überall die Abdeckungen von der Klimaanlage. Hinter der Mangel, unweit der Stelle, an der wir die Fasern im Rohrschacht gefunden haben, in der Nähe des Werkzeugkastens und neben der Kotze von Maibach. Sind die etwa durch die Klimaschächte weg?“
„Genau. Oder sie wurden da reingezogen und weggebracht. Ist aber ziemlich eng, um jemanden zu tragen. Das sollten wir uns mal genauer ansehen. Auf geht’s, Fritsche! Wir ziehen uns Overalls an und treffen uns vor dem Rohrschacht, in dem die Lehmann verschwunden ist. Bis gleich.“
Sie verließen das Büro und trafen sich umgezogen im Wartungsraum wieder, um den Rohrschacht zu inspizieren. Sie stiegen in den Schacht und krabbelten bis zum Klimadeckel, in dessen Nähe der Scanner von Allysia Lehmann gefunden worden war und die Fasern ihres Arbeitsanzuges. Orion kroch zur Lüftungsklappe und rüttelte daran.
„Lose“, sagte er und klappte die Abdeckung hoch.
Er kroch in den Klimaschacht und Fritsche folgte ihm. Sie bewegten sich langsam vorwärts, Abzweigung folgte auf Abzweigung.
„Die könnten viele Wege genommen haben. Hier gibt es so viele Möglichkeiten – wir können unmöglich das gesamte Klimasystem des Turmes absuchen. Fritsche, wir brauchen eine Idee. Aber eine verdammt gute!“
Hyroniemus sah Orion an und plötzlich strahlte er über das ganze Gesicht.
„Chef, ich glaube, ich habe die Lösung für unser Problem! Der Scanner! So ein Scanner, den die Lehmann benutzt hat. Unsere Techniker müssten ihn doch auf die Biodaten der Verschwundenen programmieren können, ihre Gensequenzen sind im System gespeichert. Damit könnten wir dann in dem Klimaschacht das Biomaterial ausfindig machen. Jeder Mensch verliert ständig Haare und Hautschuppen, die zeigen, wo er langgegangen ist, oder?“
„Fritsche, du bist genial! Das ist es. Komm, lass uns zurück ins Criminallabor gehen und uns solche Scanner anfertigen lassen. Da bekommen die Jungs mal eine anspruchsvolle Aufgabe!“
Gemeinsam machten Orion und Fritsche sich auf den Rückweg.
Drei Tage später waren zwei Scanner auf Biomaterial programmiert und Schroeder und Fritsche konnten sich damit auf die Suche nach den Verschwundenen machen.
Schroeder keuchte. Seit fast einer Dreiviertelstunde krochen sie durch den Klimaschacht. Die Idee von Fritsche hatte sich bewährt. Sie hatten wirklich Biomaterial gefunden und folgten nun dieser Spur. Ohne die Scanner hätten sie den Weg von Allysia Lehmann nie gefunden, denn es ging kreuz und quer durch die stählernen Eingeweide des Turmes, eine Kreuzung auf die andere. Plötzlich hörte die Spur auf. Sie krabbelten ein Stück zurück, um sie wiederzufinden, aber vergebens. Jetzt gab es nur noch zwei Blindschächte hier und einen, den ein Ventilatorrad verschloss, welches auch noch vergittert war.
„Ende, Fritsche! Hier haben wir wohl die Spur verloren. Aber du hast doch alles auf der Karte markiert!?“
„Jo, Chef. Hab unseren Weg eingetragen, wir können ihn jederzeit wieder gehen.“
„Okay, dann mach mal am Ende der Spur eine Markierung, damit wir wissen, wie weit wir waren.“
Fritsche zog eine Dose Farbe aus seiner Overalltasche und sprühte ein kleines X auf den Boden. Dann steckte er die Dose zurück an seinen Oberschenkel.
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