1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Van Lommel selbst begann 1986 systematisch seine Patienten zu befragen. Er wollte wissen, warum Menschen während der Phase des klinischen Todes Bewusstsein erleben können. Er und seine Kollegen fragten 344 Patienten, die einen Herzstillstand überlebt hatten.
18 Prozent der Patienten hatten eine Erinnerung. Niemand schilderte eine negative Erfahrung. Acht Jahre beanspruchte die Langzeitstudie insgesamt. Das paradoxe Ergebnis: »Dass gerade in einer Phase, in der die Durchblutung des Gehirns vollkommen zum Erliegen kommt, ein erweitertes Bewusstsein sowie logische Denkprozesse möglich sind, führt uns zu der für unser heutiges Verständnis besonders heiklen Frage zwischen Bewusstsein und Gehirnfunktionen. Das Gehirn müsste eigentlich die Funktion des Bewusstseins stoppen. Die Menschen haben einen Herzstillstand, keinen Körperreflex, keine Hirnstammaktivitäten mehr, haben keinen Atem mehr, und in diesem Moment haben die Patienten ein erweitertes, sehr helles Bewusstsein, erweiterter als je zuvor.
›Die heutige Wissenschaft hat das Bewusstsein bisher ausschließlich im Gehirn verankert.‹ (…) Wir müssen zugeben, dass es nicht möglich ist, das Bewusstsein auf neuronale Prozesse zu reduzieren, denn es ist eine unbewiesene Annahme, dass das Bewusstsein und die Erinnerung dem Gehirn alleine entstammen.«39
Würden diese Forschungsergebnisse in weiteren Kreisen der Medizin wahrgenommen werden, müsste das zu einem Paradigmenwechsel in der westlichen Wissenschaft führen. Das hätte dann praktische Auswirkungen, zum Beispiel bei der Pflege komatöser oder sterbender Patienten und auch vordringlich bei der Organentnahme zu Transplantationszwecken. Denn es ist zu befürchten, dass die Patienten das inhumane Geschehen auf einer bestimmten Ebene noch wahrnehmen werden.
EINE KURZE GESCHICHTE DER UN- UND HALB-WAHRHEITEN
»Sie können nicht einfach hergehen und den Leuten die Herzen rausnehmen.«
Dr. Irvine H. Page (1901 – 1991), Präsident der American Heart Association, kritisierte 1968 Christiaan Barnard nach seiner ersten Herztransplantation. Zitiert nach: Barnard, Christiaan: Das zweite Leben, München 1993.
Als am 3. Dezember 1967 in Kapstadt das erste Herz verpflanzt wurde, ging die Nachricht als Zeichen der Hoffnung um die ganze Welt. Es war zugleich ein Angriff auf die Integrität und Würde der nicht einwilligungsfähigen Patienten. Sie wurden wider Willen sogenannte »Organspender«. Bis 1967 hatte es kein Chirurg gewagt, ein Herz zu transplantieren, obwohl die Operationstechnik vielfach an Tieren erprobt worden war. Die US-amerikanischen Ärzte Norman Edward Shumway (1923 – 2006) und Richard Rowland Lower (1929 – 2008) hatten die entscheidende Forschung für Organtransplantationen geleistet und ihre Erkenntnisse in medizinischen Fachzeitschriften publiziert. Dennoch konnten sich die US-Behörden zunächst zu keiner Genehmigung durchringen. In Südafrika, im damaligen Land der Apartheid, aber waren die rechtlichen und ethischen Barrieren niedriger als in westlichen Industrienationen, und so brach der Bure Christiaan Barnard (1922 – 2001) das Tabu und griff zum Skalpell, nachdem er die Technik von den amerikanischen Chirurgen studiert hatte. Er wurde berühmt – zunächst als Herzchirurg, dann als Herzensbrecher. Ein Journalist der New York Times warf in einem Interview Barnard vor: »Dr. Dwight E. Harken aus Boston behauptet, Sie hätten Shumway die Technik gestohlen?«40 Und im Washington Evening Star hieß es unter der Headline »Südamerikaner schafft es als erster: Gemüsehändler lebt mit verpflanztem Herzen« weiter: »In den Kommentaren führender amerikanischer Herzspezialisten, die gehofft hatten, auf dem Gebiet der Herztransplantation die ersten zu sein, gibt es gewisse Anzeichen von Berufsneid.«2
War die verletzte 25-jährige Denise Darvall wirklich bereits tot?
Das Herz als Verkörperung der Lebensmitte oder Sitz der Seele war plötzlich zum auswechselbaren Ersatzteil geworden. Welche Identitätskrisen für den Empfänger durch die Implantation eines fremden Herzens entstehen würden und auch gesundheitliche Probleme, war ungeklärt. Dennoch genügte die Tatsache als solche, ein Herz verpflanzen zu können, um die Weltöffentlichkeit zu interessieren. Doch annähernd alle Kriterien, die als Voraussetzung für ein Überleben nach der Operation des 54-jährigen Empfängers Louis Washkansky (1913 – 1967) hätten berücksichtigt werden müssen, ignorierte der Chirurg Barnard: Die Gewebeverträglichkeit war unzureichend, das Herz der 25-jährigen Spenderin Denise Ann Darvall (1942 – 1967) war zu klein, die Immunsuppression war noch unterentwickelt und man war noch nicht in der Lage, ein Herz über einen längeren Zeitraum zu konservieren.
Der Düsseldorfer Kardiologe und spätere Nobelpreisträger Prof. Dr. Werner O. T. Forßmann (1904 – 1979) sprach damals von einem »operativen Eingriff ohne Belang, weil unsere Kenntnisse von der Immunologie überpflanzter Gewebe noch nicht ausgereift sind. Wer aber unter solchen Voraussetzungen operiert, missachtet das oberste Gebot der Chirurgie ›nil nocere‹ (nicht schaden).«41 In der FAZ vom 03. 01. 1968 bezeichnet Forßmann Barnards Vorgehen als leichtsinnig und »unseriös« und warf ihm Manipulation bei der Todesfeststellung vor.
War die durch einen Verkehrsunfall verletzte Denise Darvall wirklich bereits tot, als sie ins Hospital eingeliefert und so ungewollt und ungefragt zur »Organspenderin« wurde? Nach den damals geltenden standesrechtlichen Kriterien musste diese Frage verneint werden. Denn anders konnte der kurzfristige Erfolg der Transplantation nicht erklärt werden, galt doch der Herz-Kreislauftod damals noch als das einzige eindeutige Todeskriterium. Denise Darvall erlitt zwar irreversible Hirnverletzungen, wurde aber intensivmedizinisch versorgt, bis die Herzentnahme ihr Leben beendete.
Barnard: »Ich hätte nicht operieren dürfen.«
Fragen der Zustimmung waren ebenso schnell geregelt wie die juristischen. Denise Darvall war bei einem Bummel mit ihrer Mutter von einem Auto angefahren worden. Die Mutter starb noch an der Unfallstelle und Denise erlitt eine irreparable Kopfverletzung. Vater Edward Darvall konnte schnell überzeugt werden und erteilte seine Zustimmung für die Organentnahme. Nachdem das sogenannte irreversible Hirnversagen festgestellt war, stellte Barnard, wie er selber schreibt, das Beatmungsgerät ab und öffnete den Brustkorb, als bei ihrem Herzen das Kammerflimmern eingesetzt hatte.42 Bei dem 55-jährigen Organempfänger Louis Washkansky beendete eine Lungenentzündung das »Transplantationswunder« nach 18 Tagen. Als der Patient verstarb, kam Barnard, wie er in seinen Erinnerungen schreibt, zu der verspäteten Erkenntnis: »Ich hätte nicht operieren dürfen.« Die Behandlung zur Vermeidung der Abstoßung des fremden Herzens hatte die Widerstandskraft des Patienten derart geschwächt, dass tödliche Organismen über eine Kanüle ungehindert in den Körper eindringen konnten. Zudem hatte Louis Washkansky Diabetes, war geschwächt. Erst 1982 kommt Cyclosporin A zur Verhinderung der Abstoßung eines Organs auf den Markt und wird von der Schweizer Firma Sandoz (heute Novartis) als immunsuppressives Medikament unter der Bezeichnung Sandimmun verkauft.
Der nächste Herzempfänger, der Zahnarzt Philip Blaiberg (1909 – 1969), dem Barnard am 2. Januar 1968 ebenfalls ein Ersatzherz implantierte, überlebte 593 Tage. Bei aller Begeisterung ließ Kritik nicht lange auf sich warten. Das dritte Herz entnahm Barnard einem Patienten, ohne zuvor die Einwilligung der Angehörigen einzuholen.
Sowjetische Ärzte erklärten der Weltöffentlichkeit, der Spender des Herzens für Blaiberg könnte noch leben, wenn Barnard ihn nicht zu früh für tot erklärt hätte.
Vision von Leichenfledderern
Читать дальше