2. Obsolete Kriterien zur Definition des Todes können zu Kontroversen bei der Beschaffung von Organen für Transplantationen führen.«
Seit dieser Zeit dient das »Hirntod«-Konzept als Scheinlegitimation für das Töten sterbender Menschen durch den Akt der Organentnahme. Weder das Ad Hoc Committee of the Harvard Medical School in den USA noch die Bundesärztekammer in Deutschland konnten ihre Hypothese, der »Hirntod« sei der Tod des Menschen, bis heute wissenschaftlich begründen. Dennoch übernahm auch die Rechtslehre die interessengesteuerte Argumentation der Transplantationsmedizin. Im Jahre 1968 verabschiedeten die USA auch ein einheitliches Gesetz zur Organspende (Uniform Anatomical Gift Act). Die Harvard-Kriterien verlangten zunächst allerdings »totere Tote« im Verhältnis zu den heute gültigen Todeskriterien. Vier Merkmale zur Feststellung des Hirntodes wurden festgelegt: (1) keine Rezeptivität und Reaktivität, (2) keine spontanen Bewegungen und Atmung, (3) keine Reflexe und (4) flaches Elektroenzephalogramm (EG).55 Hirntote sollten also zu keiner einzigen Bewegung mehr fähig sein dürfen. Insofern ist es irreführend, wenn sich die Bundesärztekammer auf den Harvard-Report beruft. Das Ausbleiben aller Reflexe war 1968 zunächstein zentrales Todeskriterium, da das Rückenmark nach dieser Definition morphologisch zum Gehirn gezählt wurde. Weil die strenge Regelung das erwartete Aufkommen potenzieller »Organspender« negativ beeinflusste, verabschiedete man sich von den Kriterien noch im selben Jahr.
Heute gelten insgesamt bis zu 17 mögliche Bewegungen beim Mann und 14 bei der Frau als mit dem Status einer Leiche vereinbar.6 Schweden, Dänemark, Polen, Deutschland und Italien waren die letzten europäischen Länder, deren Bevölkerung, aber auch ein großer Teil der Mediziner, Juristen und Theologen, sich dem Hirntod-Diktat widersetzten.
Wer hat das Urheberrecht an dem Hirntod-Konzept?
In »Der entseelte Patient« (Berlin 2004) schreibt die Kulturwissenschaftlerin Prof. Dr. Anna Bergmann:
»An dem Durchbruch dieser Todesdefinition war maßgeblich der deutsche Neurochirurg Wilhelm Tönnis (1898 – 1978) beteiligt. Seit 1937 leitete er in Berlin die Abteilung für Tumorforschung und experimentelle Pathologie des Kaiser-Wilhelm-Instituts. In seiner Funktion als beratender Neurochirurg beim Chef des Sanitätswesens der Luftwaffe war seine Forschung in die medizinischen Verbrechen im Nationalsozialismus eingebettet. In den sechziger Jahren arbeitete Tönnis in der Bundesrepublik Deutschland als Direktor der Abteilung für Tumorforschung und experimentelle Pathologie des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung an der Wiederbelebbarkeit von hirnverletzten Patienten. Die 1963 von ihm und seinem Mitarbeiter Reinhold A. Frohwein aufgestellten Kriterien für einen Behandlungsabbruch bzw. den »cerebralen Tod« eines an der Lungenmaschine noch beatmeten Komapatienten wurden, wie Gesa Lindemann herausgearbeitet hat, für die Durchsetzung des heute gültigen Hirntodkonzepts bedeutsamer als alle neurophysiologischen Beweisführungen amerikanischer Hirnforscher zusammen. (…) Diese Forschungen ebneten den Weg für den Eintritt in eine neue experimentelle Phase der Transplantationsmedizin, deren Gelingen durch die Verwendung von Organen aus einem lebenden Körper erfolgversprechender erschien als bisherige Verpflanzungsversuche mit Herztodleichen.«56
Die Literatur der Transplantationsmedizin gesteht anderen Medizinern das Erstgeburtsrecht zu. Die französischen Wissenschaftler Pierre Mollaret (1898 – 1987) und Michael Goulon prägten vier Jahre zuvor, 1959, den Begriff »coma depassé (endgültiges Koma). Sie bezeichneten damit den irreversiblen Ausfall der Hirntätigkeit. Erst mit der Einführung der künstlichen Langzeitbeatmung konnte der Zustand coma depassé beobachtet werden. Die Autoren setzten coma depassé allerdings nicht mit dem Tod des Menschen gleich, geschweige denn, dass sie einen Zusammenhang mit der Transplantationsmedizin sahen. Vor der Erfindung der Herz-Lungen-Maschine im Jahr 1952 galt der irreversible Kreislaufstillstand als Kriterium des Todes.
WANN IST DER MENSCH WIRKLICH TOT?
»Es ist nicht Sache des Staates, zu entscheiden, wann das Leben des Menschen endet, ob der Hirntote schon ein Toter oder noch ein Sterbender ist. (…) Dem Staat ist wegen der Verfassung verwehrt, menschliches Leben zu bewerten und je nach dem Ausgang der Bewertung das Grundrecht des einen dem Grundrecht des anderen zu opfern. Der Staat verpflichtet sich vielmehr zum Schutz der Persönlichkeit umso intensiver, je geringer der zeitliche Abstand zum Todeszeitpunkt ist. Denn der Patient vermag sich nicht mehr zu wehren.«
Professor Dr. jur. Hans-Ullrich Gallwas (Staatsrechtler in München). Stellungnahme zur Anhörung des Gesundheitsausschusses im Deutschen Bundestag am 28. Juni 1995, Protokoll Nr. 17, S. 8/9.
»Wir müssen mindestens auf Zeit damit leben, dass wir uns im Einzelfall durch einen Widerspruch gegen diese moderne Form des Kannibalismus wehren können.«
Prof. Dr. jur. Hans-Ullrich Gallwas, Schreiben vom 22. 10. 1997 an Richard Fuchs. Zitiert mit freundlicher Genehmigung des Absenders.
Während auf der einen Seite aktive Sterbehilfe im Gewand eines humanitären Aktes als Kostendämpfungsmaßnahme gehandelt wird, gelten Sterbende andererseits als begehrte Ressource für verwertbare Körperteile – Organe, Gewebe, Knochen, Haut, Zellen. Um Ärzten eine strafrechtliche Verfolgung zu ersparen, wenn sie einem noch lebenden Patienten Körperteile entnehmen, gilt nun in vielen Ländern gesetzlich geregelt der Hirntod als Tod des Menschen, wobei die Diagnose – so paradox es klingen mag – an einem noch lebenden Patienten vorgenommen wird. Bevor der Hirntod als Position auf dem Totenschein zu finden war, konnten Ärzte sichere Todeszeichen zuverlässig bestimmen. Schon vor einer Weile wurde der Tod des Menschen so beschrieben, wie im Brockhaus von 1924: »Tod, der vollständige Stillstand der Herztätigkeit, der Atmung, des Kreislaufs und aller damit zusammenhängenden Lebensprozesse eines Organismus, erfolgt durch Altersschwäche (Marasmus), durch Krankheit oder gewaltsame äußere Einflüsse.« Um keine Zweifel aufkommen zu lassen, wurden Verstorbene drei Tage aufgebahrt bis auch durch äußere sichere Todeszeichen wie Totenstarre, Totenflecke, Fäulnis, erkennbar war, dass ein Mensch wirklich verstorben ist. Der junge Arzt Christoph Wilhelm Hufeland (1762 – 1836) in Weimar forderte den Bau von Leichenhäusern, in denen die Verwesung scheinbar Toter abgewartet werden müsse. Auf sein Drängen hin wurde 1792 in Weimar das erste Leichenhaus in Deutschland gebaut.
Es heißt zwar, »nichts ist so sicher wie der Tod«, dennoch haben bange Zweifel im kollektiven Unterbewusstsein überlebt, bevor man auf diese totsichere Art den Tod feststellte. Sie sind auch durch Märchen und Legenden dokumentiert, wie der Mordfall Schneewittchen. Von der Stiefmutter ermordet, war sie dreimal klinisch tot und am Ende doch wieder zum Leben erweckt worden. Unterschwellige Ängste erhielten frische Nahrung, als der französische Arzt Jacpuès-Jean Bruhier d’Ablaincourt 1742 eine 500 Seiten starke Dissertation über »Die Unsicherheit der Kennzeichen des Todes« veröffentlichte. Er listete darin zahlreiche ungewöhnlicher Vorfälle auf. Als das Buch 1754 auf Deutsch erschien, löste es in akademischen Kreisen heftige Diskussionen über den Scheintod aus.
Im 19. Jahrhundert gab es in Frankreich – wie die Autorin: Zaria Gorvett schreibt57 – 30 Theorien, wie man feststellen konnte, dass jemand gestorben war – einschließlich der Methode, dass man ihre Brustwarzen quetschte oder Blutegel an ihrem Fuß ansetzte. Anderenorts waren die zuverlässigsten Methoden, den Namen des Patienten laut zu rufen. Wenn der Patient auf diese Rufe dreimal nicht reagierte, galt er als tot. Eine weitere Methode: Man hielt einen Spiegel unter die Nase, um feststellen zu können, ob der Spiegel beschlug.
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